Donnerstag, 12. Juni 2025

Aus der Praxis: Scham

 



Starke Scham ist ein Dämon, dessen Existenz wir gerne verleugnen. Scham hat eine zerstörerische Macht. Scham kann uns wie eine Sucht beherrschen. Wer sich schämt, tut alles um dieses zerstörerische Gefühl zu unterdrücken, doch solange es unterdrückt wird, ist da Leugnen und Abwehr. Scham ist eine der zerstörerischen Kräfte in unserem Leben. Erst wenn wir die Scham benennen können, ohne sie zu verurteilen, verliert sie ihre Macht über uns.
Gesunde Scham ist kein schlechtes Gefühl, sie macht uns menschlich, sie zeigt uns unsere Grenzen, sie sagt uns, wo wir Acht geben müssen, um nicht über das Ziel hinauszuschießen. Sie bewahrt uns davor zu verletzen und zu zerstören. 
 
Starke Scham aber ist zerstörerisch. Sie zerstört unser Selbstbild und zeigt sich in Süchten, Pathologien, Zwängen, Angststörungen, Phobien und Neurosen. Sie kann zur Hoffnungslosigkeit führen und schwächt unsere Lebenskraft.
Scham erzeugt nicht nur das Gefühl in den Erdboden versinken zu wollen – Scham erzeugt auch Wut. Über das zu sprechen wofür man sich schämt, macht wütend, gerade weil man sich schämt. Das Gefühl der Scham, wird es nicht aufgelöst, führt zu einer chronischen Beschämung, und kann zu einer Art "Scham-Wut" führen. Diese Wut ist oft eine Abwehrreaktion auf das Gefühl der Ohnmacht und der Unzulänglichkeit, das mit der Scham verbunden ist. Scham kann auch zu chronischem innerem Stress und Kampf- oder Flucht-Reaktionen führen.
 
In der Scham verleugnen wir uns selbst, wir fühlen uns, als hätten wir unser Gesicht verloren. 
In der Scham fragmentiert sich unser Innerstes. Wir sind bedrückt von der Angst man könne uns entdecken und bloßstellen. Wir verstecken uns vor uns selbst und vor der Entdeckung anderer. Wer sich schämt führt oft ein Leben in seelischer Isolation.
Scham macht scheu - wir scheuen das Licht.
Wir möchten am liebsten in den Boden versinken, wir muten uns keinem zu, wir fürchten Nähe, weil wir fürchten entlarvt zu werden.
Wer unter starken Schamgefühlen leidet steht mit sich selbst im Konflikt und dadurch steht er mit der Welt in Konflikt. Scham ist wie ein eiserner Vorhang, der vom Leben trennt. Scham konfrontiert uns mit unseren vermeintlichen Mängeln, mit Gefühlen von Schuld, Schlechtsein, Fehlerhaftigkeit, Schmutzigsein und Wertlosigkeit. Scham suggeriert: „Du bist nicht liebenswert. Du bist schlecht und somit bist du auch schlecht für andere.“
Scham ist Gegenstand der Selbstverachtung.
Sie ist eine Qual, ein Leiden der Seele.
Scham führt zum Schämen aufgrund der Scham.
Scham führt dazu uns selbst nicht zu achten und zu vertrauen. 
 
Das Gefühl der Scham hat seine Ursachen oft in der Kindheit.
Scham wird internalisiert, wenn sich Bindungspersonen schamlos verhalten, auf welche Weise auch immer, und Kinder zu Zeugen dieses schamlosen Verhaltens werden. Sie übernehmen die Scham stellvertretend für die, die sie nicht empfinden. Scham wird internalisiert, wenn ein Kind gedemütigt, missbraucht, in seinem So-sein nicht geliebt und angenommen wird. Scham wird internalisiert, wenn einem Kind die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Man raubt ihm die Menschenwürde.
Ein Kind, das gedemütigt oder missbraucht wird, verliert sein wahres Selbst. Es spaltet es ab. Damit hört es auf seelisch zu existieren. Es verliert seine vitale Lebensenergie, es entfremdet sich von sich selbst. Sich von sich selbst entfremden bedeutet, dass wir Teile unseres Selbst als fremd und nicht zu uns gehörig empfinden. Ein Teil in uns selbst wird zum Objekt der (Selbst)Verachtung. Wer sich selbst verachtet ist sich selbst nicht gut.
 
Starke Scham kann zu innerer Lähmung, zu innerem Rückzug und affektiver Passivität führen. Ein Leben, das von Scham beherrscht wird, gibt sich nicht die Erlaubnis frei zu sein, frei zu leben. Immer ist da das Gefühl nicht dazuzugehören. Immer ist man auf der Hut. Immer meint man, man ist den anderen lästig oder zu viel.
Der Psychoanalytiker Léon Wurmser schrieb einmal sinngemäß: Menschen sehen ihre Scham gleichsam „im Blick der tausend Augen“ der anderen. Der Blick der „tausend Augen“ ist für Menschen, die unter starker Scham leiden, bedeutsam. Sie leben ständig in der Angst herabgesetzt, herabgewürdigt, ausgegrenzt, gedemütigt und neu beschämt zu werden. Dies führt dazu, dass sie sich immer weiter in sich selbst zurückziehen. Sie bauen Mauern um sich, mauern sich ein in einer Welt, die ihnen Schutz verspricht. Doch dieser Schutz hat den Preis der emotionalen Isolation. Nicht selten führt unbewältigte Scham zur Sucht. Sucht hat immer auch mit einem gespaltenen Selbst zu tun und der Überzeugung ein Mensch zu sein, der mit Makeln behaftet ist und dem Gefühl dem Leben nicht gewachsen zu sein. In der Sucht liegt der Versuch das Gefühl des Schmerzes zu betäuben. Die Sucht und ihre Folgen führen wiederum zu neuer Scham. So erzeugt Scham immer wieder Scham.
Ein Teufelskreis.
 
Um krankhafte Scham zu überwinden bedarf es immer einer Veränderung des Selbstbildes.
Dazu gehört zunächst die Akzeptanz des Schamgefühls, auch wenn es weh tut.
Dazu gehört: Selbstmitgefühl entwickeln.
Dann heißt es, das Gefühl der Scham zu erforschen, es zu identifizieren und zu hinterfragen um sich von dem Gefühl zu disidentifizieren.
Was war der Auslöser?
Was oder wer hat mich derart beschämt?
Weiter geht es darum Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Im Tiefsten geht es darum die eigene Würde wieder zu erlangen.
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

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