Wie lange ist ein Leben im Katastrophenzustand aushaltbar, ohne an die Substanz zu gehen? Diese Frage stellen sich viele Menschen. Viele von uns sind müde. Müde von den täglichen Katastrophennachrichten, müde von den Kriegen, die mehr und mehr eskalieren und den Weltfrieden bedrohen. Müde vom Hoffen, müde vom Durchhalten, müde von der Sehnsucht nach Besserung der Lage, müde von der Angst und müde von der Ungewissheit. Wir fühlen uns ausgeliefert und schwach, als Spielball der Ereignisse. Wir trauern um den Verlust unserer alten Welt und fürchten uns vor dem, was noch kommt. Mit Recht, es sind gefährliche Zeiten. Mit all diesen Gefühlen verwoben ist bei den einen dumpfe Gleichgültigkeit, bei anderen Wut, die am liebsten herausschreien würde: Es reicht jetzt!
Wenn sich Erschöpfung, Empörung, Trauer, Angst, Frust und Wut mischen, entsteht ein ungesunde Melange in der Psyche, die auf Dauer zermürbt. Es kommt zu einem tiefen Gefühl von Ohnmacht. In der Ohnmacht fühlen wir uns ausgeliefert, macht- und hilflos. Ohnmacht ist das Gefühl das eigene Leben nicht mehr beeinflussen zu können. Dem Erleben von Selbstbestimmung und Ich-Orientierung steht auf der unbewussten Seite das verdrängte Erleben von Hilflosigkeit gegenüber. Ohnmacht bedeutet: Kontrollverlust.
Wie fühlt sich diese psychologische Ohnmacht an?
Die Unfähigkeit, aus einer Situation zu entkommen, erzeugt ein Gefühl der Bedrohung. Dazu kommt die Ausweglosigkeit, das nicht wissen wie ändern, was dem Geschehen seine unheilvolle Dimension verleiht - das ist Ohnmacht. Ohnmacht und Machtlosigkeit kann bei jedem, je nach psychischer Struktur und Charakter, andere Gefühle auslösen. Beim einen sind es Trauer, Teilnahmslosigkeit, Verzweiflung, Resignation und Depressivität, beim anderen sind es Angst, Aggression und Wut.
Ohnmacht ist das am meisten abgewehrte und verdrängte Gefühl. Es ist so unangenehm und fühlt sich so existentiell bedrohlich an, dass Menschen alles Mögliche zu glauben und zu tun bereit sind, um das Gefühl von Kontrolle zurückzugewinnen, mittels der unterschiedlichsten Bewältigungsmechanismen.
Für manche erhöht sich das Gefühl von Kontrolle bzw. der eigenen Wirksamkeit, indem sie ihre wütende Ohnmacht in Macht umwandeln. Das kann soweit gehen, die Macht über andere erlangen zu wollen, was sich bis zur Gewaltausübung steigern kann. Ohnmächtige Wut hat ihr Ziel nicht in der zielgerichteten Vernichtung eines konkreten Feindes, sie ist viel vager, aber auch viel destruktiver gegen die Außenwelt gerichtet. Sie entlädt sich unkontrolliert an den verschiedensten Stellen, was man am steigenden Aggressionspotenzial im Netz und angesichts des immer respektloseren und feindlicheren Miteinanders der Menschen beobachten kann.
Andere wiederum fallen in depressive Passivität.
Sie versinken sie in eine träge Lähmung und verlieren jegliche Motivation und Antrieb. Wiederum andere verfallen in erhöhte Geschäftigkeit. Hier wird das Gefühl der Ohnmacht abgewehrt und unterdrückt, indem man besonders aktiv ist, um vor sich selbst und anderen als das Gegenteil eines ohnmächtigen Menschen zu erscheinen. Auch der Glaube an den Faktor Zeit ist eine Form der tröstenden Rationalisierung angesichts der Erfahrung von Ohnmacht. Beim Glauben an die Zeit besteht die Erwartung, dass sich mit der Zeit schon alles regeln wird, dass Dinge, zu deren Lösung man selbst nicht fähig ist, vom Vergehen der Zeit gelöst werden. Weitere tröstende Rationalisierungen sind der Glaube an eine Obrigkeit, die die Dinge schon regeln wird oder der religiös spirituelle Glaube an ein Wunder, das die Erlösung bringt.
Die Ursache all dieser Bewältigungsmechanismen ist jedoch die gleiche: Kontrollverlust.
Halten Ohnmachtsgefühle zu lange an kommt es zum Phänomen der erlernten Hilflosigkeit. Der Mensch zweifelt an der Wirksamkeit seiner Handlungen und stellt das Handeln ein. Erlernte Hilflosigkeit führt dann dazu, dass Menschen passiv bleiben, auch wenn sie wieder handeln könnten. Das Resultat ist ein Selbstgefühl absoluter Wertlosigkeit, begleitet von tiefer Angst, Leere und Sinnlosigkeit. Erlernte Hilflosigkeit ist ein Teufelskreis, an dessen Ende das Gefühl steht, sich durch eigenes Handeln nicht aus einer Situation befreien zu können. Der Glaube Herausforderungen aus eigener Kraft meistern zu können ist verloren. Das anhaltende Gefühl von Ohnmacht ist der Anfang einer destruktiven Abwärtsspirale – sei es die der Gewalt, der Angst, des Ausbrennens oder der Depression.
Wie gelingt ein produktiver Umgang mit der Ohnmacht?
Sie gelingt dann, wenn eine radikale Anerkennung der Wirklichkeit stattfindet. Die äußere Wirklichkeit muss anerkannt und akzeptiert werden, ebenso wie die Grenzen des menschlich beeinfluss- und machbaren. Die Ambivalenzen, die Unwägbarkeiten und die Polaritäten des Lebens müssen akzeptiert werden. Eigene Kompensationsmechanismen und Bewältigungsstrategien dürfen hinterfragt werden. Erst wenn diese als das, was sie sind – nämlich untaugliche Versuche um die Kontrolle über das Unkontrollierbare wiederzuerlangen – bewusst geworden sind, kommt es zur inneren Bereitschaft die eigene Ohnmacht anzuerkennen und sie zu akzeptieren. Dies führt dazu, dass die Erschöpfung, die sich im Widerstand gegen das, was ist, verstärkt, auflösen darf. Erst wenn wir etwas akzeptieren können wir überhaupt nach Lösungen suchen – für uns selbst, für unseren Umgang mit der Ohnmacht. Der beste Weg um mit der Ohnmacht umzugehen, ist - uns auf das zu konzentrieren, was wir kontrollieren können und worauf wir Einfluss haben.
Ja, wir sind erschöpft, ja wir sind ohnmächtig gegenüber dem Wahnsinn der Welt und den Wahnsinnigen, die ihn weiter vorantreiben. Und ja, es ist ok, denn das, was wir gerade erleben, ist ein kollektiv bedrohliches Szenario, auf das wir keinen Einfluss haben. Worauf wir Einfluss haben, ist unsere Haltung zu dem, was ist.
Und - wir dürfen uns erlauben, was wir fühlen, zu fühlen und uns mitzuteilen – einander, einer dem anderen. Teilen wir uns wahrhaftig mit, sind wir nicht nur authentisch und menschlich, wir schaffen Verbundenheit. Und das ist das, was wir jetzt dringend brauchen.
"Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“, soll Martin Luther gesagt haben.
Möge der Frieden siegen.
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