Freitag, 14. November 2025

Der "Stumme Zeuge"

 


Wenn einem Kind etwas Traumatisches passiert und die Eltern sagen: „Das ist nicht wahr, du bildest dir das nur ein!“, wenn sie ihm nicht glauben, ist das Kind, um emotional zu überleben, gezwungen zwischen der Wahrheit seiner Erfahrung und der Bindung zu den Eltern, von denen es abhängig ist, zu wählen. Weil Bindung für das Kind sein emotionales Überleben bedeutet, wird es seine eigene Wahrheit opfern.
Das ist der Anfang von Selbstzweifeln und Selbstverlust.
Das ist der Anfang von Schuld und Scham im Leben des Kindes.

Es kommt zur inneren Spaltung.
Ein innerer Anteil weiß, es ist etwas Traumatisches passiert, ein anderer innerer Anteil sagt, es ist nichts Schlimmes passiert.
Das Nervensystem weiß, es ist etwas Schlimmes passiert.
Der Verstand sagt, das hast du dir eingebildet.

Diese innere Spaltung führt zu einer tiefen inneren Unsicherheit und Zerissenheit. Sie führt zu einem Gefühl von: Was ich fühle ist nicht wahr. Und später zu: Ich kann meiner Wahrnehmung, meiner Erinnerung und meinen Gefühlen nicht glauben und nicht trauen.
Ich kann mir selbst nicht vertrauen.
Das führt zu Selbstverlust.
Das führt zu einer Spaltung der Seele und zu einer tiefen inneren Einsamkeit. Das Kind und später der Erwachsene, ist nicht glaubwürdig, nicht für die anderen und nicht für sich selbst.  

Was diese Menschen brauchen, ist das, was Alice Miller den „Stummen Zeugen“ nannte. Der stumme Zeuge ist Teil der Selbstfindung, bei der der Mensch sich von alten Traumata löst und sein authentisches Selbst wiederentdeckt. Der stumme Zeuge ist Jemand, der ihm achtsam und wertschätzend zuhört und ihm Glauben schenkt. 

Glaubwürdig zu sein ist Teil des Heilungsprozesses.
Wenn jemand endlich sagt: Ja, das ist wirklich passiert. Du hattest Recht, Angst zu haben, wütend oder hilflos zu sein, dann können sich Gefühl und Tatsache wieder verbinden. Die Seele kann sich entspannen, weil Realität und Gefühl übereinstimmen.
Endlich glaubwürdig zu sein durchbricht die innere Einsamkeit. Es durchbricht Schuld und Scham.


Angelika Wende
Kontakt aw@wende-praxis.de


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