Verzweilfung ist der schlimmste Affekt.Verzweiflung ist ein komplexes emotionales und psychologisches Phänomen, das häufig in Situationen intensiver Belastung, nach einem schweren Verlust oder angesichts auswegloser Umstände auftritt. Psychologisch betrachtet ist Verzweiflung eine Reaktion auf eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen, Bedürfnissen oder Zielen und der aktuellen Realität, die als unerträglich oder unüberwindbar erlebt wird. Aus neurobiologischer Sicht sind bei der Verzweiflung sogar Veränderungen in den Hirnregionen beteilig. Diese Veränderungen können dazu führen, dass die Person sich hilflos, ausgeliefert und ohne Kontrolle fühlt, was die emotionale Belastung verstärkt. Psychologisch spielt die Verzweiflung eine zentrale Rolle in verschiedenen Theorien der Bewältigung und Resilienz. Sie kann als eine Krise der Sinnfindung betrachtet werden, bei der der Mensch den Glauben an eine positive Zukunft verliert. In solchen Momenten kann die Wahrnehmung der eigenen Hilflosigkeit dominieren, was die Motivation zur Problemlösung erheblich beeinträchtigt.
Oft sind Menschen in ihrer Verzweiflung emotional nicht mehr erreichbar. Der Verzweifelte befindet sich in einem tiefen emotionalen Ausnahmezustand. Er zieht sich zurück um mit den intensiven Gefühlen irgendwie umzugehen. Verzweiflung ist eng mit depressiven Zuständen verbunden, da sie oft von Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, Wertlosigkeit und innerer Leere begleitet wird. Diese Gefühle können in einem Teufelskreis enden in dem negative Gedankenmuster die emotionale Lage weiter verschlechtern. Wenn ein Mensch vollkommen vereinsamt ist und niemanden hat, kann das die Verzweiflung noch verstärken.
Da ist Angst, da ist Ohnmacht, da ist Hoffnungslosigkeit.
Niemand, der sich seinem Leid zuwendet.
Der Verzweifelte bleibt allein zurück, allein in seinem Schmerz und untröstlich.
Leere.
Der Fall in ein tiefes Loch.
Verzweiflung macht sich breit und breiter. Sie überschattet das Leben.
Nichts macht mehr Freude, nichts hat mehr Bedeutung.
Nur noch Einsamkeit innen.
Eine existenzielle Einsamkeit, die sich eingräbt und bleibt.
Der Verlust von Sinn.
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard wagte um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Behauptung, kein Mensch lebe oder habe gelebt, ohne dass er verzweifelt gewesen sei. Daher sei es keine Seltenheit, dass jemand verzweifelt, sondern - im Gegenteil - das Seltene, ja sogar das sehr Seltene sei, dass jemand nicht verzweifelt ist. Und er behauptete weiter: „Sich nicht bewusst zu sein, dass man verzweifelt ist, heißt noch lange nicht, nicht verzweifelt zu sein.“
In der Sinnkrise wird die Verzweiflung ins Unbewusste verlagert. Die Leere, die gefühlt wird, ist nichts anderes als schiere Verzweiflung am Verlust des Lebenssinns, die Verzweiflung am eigenen Sein, das wirkungslos geworden erstarrt und als nutzlos empfunden wird.
„Zweifeln“ heißt zweifachen Sinnes sein, sich in der Schwebe zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten halten. So mündet zweifelndes Denken im besten Falle aus dem wogenden Meer der Möglichkeiten in den sicheren Hafen. Das Ziel des Denkens geht vom Ungewissen über das Mögliche zum Ziel hin. Wer aber am Leben verzweifelt erlebt den Verlust aller Möglichkeiten und damit den Lebenssinn.
Wir alle können den Sinn verlieren, auch ich kenne das. Immer wieder gab und gibt es Momente in meinem Leben in dem die Verzweiflung wie eine riesige Welle über mir zusammenbricht. Momente, in denen sie mich wie ein schwarzer Schatten überfällt. Dann schwimme ich um aus der Tiefe der Welle wieder nach Oben zu kommen. Das erfordert Kraft und führt auch immer zu Kraftlosigkeit, aber es bedeutet: Überleben, trotz und mit der Schwäche, die immer noch ausreicht um einen Sinn zu finden, auch da wo der alte verloren ist.
Sinn suchen und uns Sinn geben, das können nur wir selbst.
Wir finden ihn nicht indem wir Vorgedachtes und Vorgelebtes übernehmen. Den Sinn des Lebens darf jeder selbst für sich suchen und finden, und im Zweifel auch wieder verlieren und wieder neu finden. Der Mensch ist Schöpfer, der sich zu jedem Zeitpunkt seiner Biografie selbst aus der Taufe hebt, wenn er sich dessen bewusst ist. Es ist an uns selbst den Sinn in das eigene Leben hineinzulegen, um ihn dann herauslesen zu können. Das ist Sinngebung und dieser folgt Sinnempfinden. Den Sinn des eigenen Lebens finden, heißt: sich in Zusammenhänge hinein zu denken. Dem eigenen Leben Sinn zu geben heißt: die Zusammenhänge in unserer Biografie erkennen, den roten Faden erforschen, ihn weiter zu spinnen und zwar an unserem eigenen Spinnrad und nicht die Fäden den Händen anderer zu überlassen.
Kierkegaard behauptet nicht, dass der Zweifel notwendigerweise zur Verzweiflung führt. Er behauptet aber, dass der Zweifel sich dann in Verzweiflung ergibt, wenn er an einen Punkt gelangt, an dem er nicht mehr weiter weiß. Solange wir noch zweifeln, verzweifeln wir nicht, dann gibt es noch Alternativen und Möglichkeiten. Erst wenn diese restlos ausgeschöpft sind, macht sich die Verzweiflung breit, dann ist der Mensch erschöpft – es kommt zum Bruch zwischen Ich und Welt.
„Ich gehe davon aus, dass es sich bei der Verzweiflung um eine bestimmte phänomenale Ausdrucks-und Erlebnisqualität einer psychischen Befindlichkeit handelt, die den ganzen Menschen in leiblichen, emotionalen, motivationalen und kognitiven Hinsichten erfasst, und die sich von der phänomenalen Qualität anderer Befindlichkeiten unterscheiden lässt. Um auf diese Art und Weise zu erkennen, ob man selbst oder jemand Anderes verzweifelt ist, muss man dann zwar bestimmte phänomenale Qualitäten introspektiv oder am Verhalten des Anderen wahrnehmen, aber man muss nicht wissen, was sich kausal oder funktional, hormonell oder neuronal in Gehirn und Nervensystem dieses Menschen abspielt.“ Schreibt Friedhelm Decher in seiner Monographie "Verzweiflung. Anatomie eines Affektes."
Der Affekt der Verzweiflung stellt sich Decher zufolge dann ein, wenn sich ein Mensch in einer absolut hoffnungs-und ausweglosen Lage befindet, die sich dadurch kennzeichnet, dass er keine Wahl mehr hat, dass ihm jegliche Freiheit der Entscheidung genommen ist. Verzweiflung wäre demzufolge der Verlust von Wahl-und Entscheidungsfreiheit.
Für mich ist Verzweiflung auch der Moment, wo wir das Gefühl haben nicht mehr weiter zu wollen, obwohl es Möglichkeiten gäbe. In der Verzweiflung können wir sie zwar durchaus noch sehen, aber sie nicht mehr ergreifen. Wir sind emotional dazu nicht mehr fähig, warum auch immer. Das ist der Moment in dem wir Hilfe brauchen um mit dieser Hilfe nach Etwas zu suchen, was uns aus dem tiefen Meer der Verzweiflung herauszieht.
"Wessen wir am meisten im Leben bedürfen ist jemand, der uns dazu bringt, das zu tun, wozu wir fähig sind", schreibt Ralph Waldo Emerson.
Ein verzweifelter Mensch braucht ein Gegenüber, das ihn versteht, seine Verzweiflung annehmen kann und nicht vor ihr zurückschreckt aus dem Gefühl eigener Hilflosigkeit heraus. Jemand, der vor der Wucht der Verzweiflung des anderen nicht flieht. Wir brauchen jemanden, der uns aktiv hilft, indem er uns Denk- und Handlungsalternativen anbietet, die uns zu einer neuen existentiellen Einstellung verhelfen. Wir brauchen eine neue Sinngebung. Diese beginnt mit der Bereitschaft unsere Gewordenheit, mit allem, was uns ausmacht, anzuerkennen, mit dem was, war Frieden zu machen, Verantwortung für unseren bisherigen Lebensweg zu übernehmen und daraus die Konsequenzen für unseren weiteren Lebensweg zu ziehen.
Wenn es uns gelingt die Vergangenheit anzuerkennen und, ganz gleich wie sie war, produktiv auf unsere Gegenwart zu beziehen, können wir lernen, angemessen mit der Gegenwart umzugehen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Dann sehen wir wieder Möglichkeiten, die uns aus der Verzweiflung auferstehen lassen wie Phönix aus der Asche.
Trotz ihrer überwältigenden Natur ist Verzweiflung in den meisten Fällen kein dauerhaftes Gefühl. Alle Wege um sie zu überwinden zielen darauf ab, negative Denkmuster zu erkennen und zu verändern, um wieder Hoffnung und Handlungsfähigkeit zu entwickeln, auch wenn es schwer ist.
Hoffnung bedeutet hier: Die Möglichkeit zu akzeptieren, dass sich die Situation verändern kann.
Verzweiflung ist eine menschliche Erfahrung, die tief in unserer psychischen Struktur verwurzelt ist. Sie ist immer ein Signal, dass eine Veränderung dringend notwendig ist. Sie bietet die Chance, durch professionelle Unterstützung und ehrliche Selbstreflexion neue Wege zu finden, um mit diesem bedrohlichen Affekt umzugehen.

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