Donnerstag, 13. November 2025

Aus der Praxis: Compassion Collapse - Mitgefühlszusammenbruch

 


"Die Empathie unter den Menschen geht immer mehr verloren, sagte neulich ein Klient zu mir. Das ist erschreckend." Ich gebe ihm absolut Recht, auch ich nehme das so wahr, aber es hat Gründe.
 
Menschen haben seit jeher gelitten hat und Leid gibt es in jedem Leben. Heute erleben wir, aufgrund der Medien, das Leid weltweit hautnah mit. Nun könnte man meinen, dass unser Mitgefühl mit zunehmendem Leid wächst. Dem ist nicht so. Studien des Labors für Empathie und Moralpsychologie an der Penn State University, zeigen das Gegenteil: Das Mitgefühl nimmt ab. Klingt paradox. Sollten wir nicht mehr Mitgefühl empfinden, je mehr das Leid zunimmt? „Gerade dann, wenn es am nötigsten erscheint, ist das Mitgefühl am geringsten“, sagt Dr. Daryl Cameron, Leiter des Labors für Empathie und Moralpsychologie an der Penn State University.
 
Compassion Fatigue bis hin zum Compassion Collapse nennt man das psychologische Phänomen, bei dem die Fähigkeit der Menschen, Empathie zu empfinden und mitfühlend zu handeln, mit zunehmendem Ausmaß des Leids, mit dem sie konfrontiert werden, abnimmt.
Warum ist das so?
Die Größe und das Ausmaß des Leids ist irgendwann emotional so überwältigend, dass wir unbewusst unser Mitgefühl als Selbstschutzmechanismus reduzieren. Mit anderen Worten: Die Angst emotional vom Leid anderer überwältigt zu werden, treibt uns zu einer selbstschützenden Reaktion der emotionalen und affektiven Begrenzung. Ein zweiter Aspekt ist die Überzeugung, dass ab einem gewissen Ausmaß an Leid unser Handeln keinen Unterschied macht. Dies führt dann, bewusst oder unbewusst, zu der Annahme, dass es sinnlos ist, den Schmerz anderer zu mitfühlen, wenn wir sowieso nichts tun können, um ihre Lage zu verändern. 
 
Wir Menschen sind endliche Wesen mit begrenzten Ressourcen. Wenn wir zu viel mitfühlen sind unsere eigenen Ressourcen irgendwann erschöpft.  
Das gilt auch dann, wenn wir ständig der seelische Mülleimer anderer sind. Sind wir dauerhaft mit den Problemen, den destruktiven Gefühlen und dem Leid anderer konfrontiert, kommt es mit der Zeit zu einem emotionalen Overload. Die Psyche schaltet, weil es ihr zu viel wird, das emotionale Mitschwingen ab. Das Ich ist erschöpft vom Mitgefühl für andere. Die Empathie erschöpft sich, sie kollabiert und wird dissoziiert. Dieser psychologische Schutzmechanismus hat nichts mit emotionaler Kälte zu tun, sondern er schützt uns davor, uns selbst im Leid anderer zu verlieren.

Wir alle laufen Gefahr, dass unser Mitgefühl nachlässt. Was können wir tun, damit es soweit nicht kommt und um unsere Empathiefähigkeit und unser Mitgefühl zu bewahren?

 

1.   Selbstmitgefühl praktizieren. Make safe number one first. Du kannst nur für andere da sein, wenn du selbst okay bist. Ein leeres Fass kann kein Wasser geben. Ein Selbst ohne Selbstmitgefühl ist im Dauerstress. In der Praxis des Mitgefühls und Selbstmitgefühls lernen wir, den inneren Kampf zu beenden und freundlich und mitfühlend zu uns selbst zu sein. Das ist die Basis, um freundlich und mitfühlend anderen gegenüber sein zu können.

 

2.  Selbstfürsorge nicht vergessen. Dazu gehört auch nicht zu viel unheilsame Nachrichten konsumieren. Der permanente Nachrichtenstrom führt dazu, dass wir uns von den Informationen überwältigen lassen. Angesichts des Leidens in der Welt kommt es zu einem Gefühl der emotionalen Überflutung, der Hilflosigkeit und der Resignation, so dass wir, wie oben beschrieben, als Selbstschutz unser Mitgefühl irgendwann abspalten.

 

3.  Uns nicht mit Menschen umgeben, die unser Mitgefühl benutzen um uns für ihre Zwecken zu manipulieren.

 

4.  Einen achtsamen Weg zum Umgang mit Mitgefühl finden. Dazu gehört insbesondere unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen, sie zuzulassen und sie ernst zu nehmen. Dazu gehört unsere Grenzen wahrzunehmen und sie zu achten. Und sie auch zu setzen, wenn es uns zu viel wird.

 

5.  Erkennen wo wir aufhören und wo der andere anfängt. Was bedeutet: uns nicht in Mitleid zu verstricken. Uns fragen: Was gehört zu mir? Was gehört nicht zu mir?

 

6.  Rückverbindung mit uns selbst herstellen. Kontemplative Praktiken wie Atmen, Meditieren, in die Stille gehen. Diese Praktiken stärken nicht nur unser Selbstmitgefühl, sondern auch unser Mitgefühl.  

 

7.  Rituale schaffen, die uns emotional entlasten und uns Kraft schenken.

 

8.  Selbstregulation als Skill nutzen, wenn uns alles zu viel wird.

 

9.  Uns, bevor wir uns für das Leid anderer verantwortlich fühlen und für jeden den Retter spielen wollen, klar darüber werden, ob unsere Hilfe und unser Handeln gewünscht ist, ob es Bedeutung hat und ob es wirksam ist. Uns klar darüber werden, ob unsere Hilfe einen Unterschied machen wird. Uns fragen: Verbessert sich damit etwas?

 

Wenn wir glauben, die Welt oder irgend jemanden retten oder verbessern zu können, überschätzen wir uns selbst. Auch professionelle Helfer kommen irgendwann an ihre Grenzen, wenn sie ihre Grenzen nicht schützen oder wenn sie sich selbst überschätzen. Auch wir, die professionell helfen, dürfen lernen, dass es wichtig ist, uns auf das zu fokussieren, was wir wirklich tun können, was machbar und was wirksam ist. In diesem Bewusstsein kann unsere Empathie und unser Mitgefühl freier fließen.


Ein Mensch ist ein Teil des Ganzen, das wir ›Universum‹ nennen: ein Teil, der durch Zeit und Raum begrenzt ist. Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Übrigen Getrenntes – eine Art optische Täuschung seines Bewusstseins. Diese Täuschung ist ein Gefängnis für uns, das uns auf unsere persönlichen Bedürfnisse und die Zuneigung zu einigen wenigen Menschen beschränkt, die uns nahe sind. Unsere Aufgabe ist es, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis des Mitgefühls erweitern und alle lebenden Wesen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umarmen.  

Albert Einstein

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