Freitag, 7. November 2025

Über das „wozu und für wen?“ und die Selbstgenügsamkeit

 


 

Mein Klient lebt allein, er hat eine dysfunktionale Familie und kaum Kontakt zu ihr, er hat keine Kinder, keine Freunde und schon lange keine Beziehung mehr. Seine sozialen Kontakte finden hauptsächlich auf der Arbeit statt. Die Abende und die Wochenenden verbringt er allein.

"Wozu, für wen leben?", fragt er mich.

"Ja", sagt er, gleich darauf, "ich weiß schon – für mich selbst, aber was bedeutet es denn für mich selbst zu leben?"

Gute Frage. Was bedeutet es?

Für jeden etwas anderes.

Für jeden ein anderes Gefühl.

Für jeden ein anderer Umgang.

Für jeden eine andere Bewertung.

 

Ich habe mich nach der Sitzung gefragt: Was bedeutet es für mich, für mich selbst zu leben?

Zunächst einmal bedeutet es, Entscheidungen zu treffen, die im Einklang mit meinen Werten und Bedürfnissen stehen und danach zu handeln. Das beinhaltet die Fähigkeit, die eigene Identität zu erkennen und zu akzeptieren, unabhängig von den Vorstellungen, Erwartungen und Meinungen anderer. Es beinhaltet mir meiner selbst bewusst zu sein, also ein gewisses Maß an Selbstkenntnis und das wiederum bedeutet: ich habe ein inneres Verständnis meiner selbst. Ich kenne meine Stärken, meine Schwächen, mein Licht und meine Schatten. Ich weiß, was mir am Herzen liegt und was mir im Leben wichtig ist und welchen Weg ich gehen möchte. Authentizität spielt eine zentrale Rolle. Echt zu sein und mich nicht zu verstellen oder zu verbiegen, um anderen zu gefallen oder um dazuzugehören, meine Meinung und meine Gefühle zu äußern, selbst wenn sie von der Mehrheit abweichen, es bedeutet - unabhängig von äußeren Meinungen oder sozialen Normen zu sein. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, die für mein eigenes Wohlbefinden wichtig sind, selbst wenn sie von anderen nicht verstanden oder akzeptiert werden.

 

Wer für sich selbst lebt und keine Fürsorge und Liebe von außen bekommt, für den ist Selbstfürsorge und Selbstliebe überlebenswichtig. 

Liebevolle Güte und Selbstmitgefühl im Umgang mit sich selbst. Sich spüren und wissen, was man braucht um nicht emotional zu verhungern. Menschen, die für sich selbst leben, müssen sich aktiv um ihr eigenes Wohlbefinden kümmern, sei es emotional, körperlich oder geistig, denn da ist niemand, der das für sie tut. Sie müssen, um ein gelingendes Leben zu führen, für sich selbst eine hinreichend gute Mutter und ein hinreichend guter Vater sein. Dazu gehört Halt in sich selbst zu spüren. Dazu gehört auch, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen, wenn es nötig ist um das eigene Seelenheil zu schützen.

 

"Kann man auch ohne eine Beziehung und ohne Freunde ein gutes Leben leben?", fragte mein Klient weiter. Die Antwort ist komplex und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es ist durchaus möglich, dass ein Mensch ohne diese sozialen Bindungen Glück und Zufriedenheit empfindet.

Das Zauberwort heißt: Selbstgenügsamkeit

Der entscheidende Faktor für ein Leben ohne enge Beziehungen ist die Fähigkeit zur Selbstgenügsamkeit. Dies setzt voraus, dass wir uns selbst und das Leben wertschätzen.  

Selbstgenügsame Menschen finden Sinn und Resonanz mittels ihrer Interessen, ihrer Leidenschaft für ihr Tun und an der Entdeckung ihrer eigenen Persönlichkeit. Nicht im Sinne von „sich permanent um sich selbst drehen“. Die zwanghafte Beschäftigung mich sich selbst hat damit nichts zu tun, es geht darum ein tiefes inneres Verständnis für sich selbst zu entwickeln. Selbstgenügsame Menschen genießen es, ihre Zeit alleine zu verbringen, und empfinden dabei keine innere Leere oder Einsamkeit. Sie brauchen keine Aufmerksamkeit von außen. Wenn sie mit Menschen zusammenkommen, ist ihnen die Qualität der Beziehungen wichtiger ist als Quantität. Sie finden in wenigen, aber tiefen Beziehungen mehr Erfüllung als in vielen oberflächlichen Bekanntschaften. Haben sie diese tiefen Beziehungen nicht, sind sie sich selbst genug. Sie wissen, was sie brauchen um ihre Zeit zu füllen und wie sie ihr Qualität und Wert verleihen.

Jemand der gerne malt, kann Stunden damit verbringen, jemand der gerne schreibt, kann Stunden damit verbringen, jemand, der sich gerne Wissen aneignet, kann Stunden damit verbringen. Er ist im Flow, er ist erfüllt, ohne dass er dafür soziale Interaktionen benötigt – er genügt sich selbst. Sein Fokus liegt auf seinen persönlichen Interessen, die Freude bereiten. 

 

Menschen, die für sich selbst leben, haben die Freiheit, ihre Zeit und ihre Energie in ihre Leidenschaften und Visionen zu investieren. Das kann zu einer tiefen Selbstverwirklichung führen. 

Es ist möglich, dass sie in Bereichen wie Kunst, Musik, Philosophie, Wissenschaft oder Reisen ihre Erfüllung finden. Wenn ich z.B. alleine reise, kann ich tiefgreifende Erfahrungen machen, interessante Begegnungen haben und die Welt und mich selbst besser kennenlernen, ohne auf einen Begleiter angewiesen zu sein.

 

Sicher brauchen wir alle soziale Interaktionen, denn sie sind oft entscheidend für das seelische Wohlbefinden. 

Wir Menschen sind von Natur aus soziale Wesen und der Mangel an erfüllenden sozialen Bindungen kann zu Einsamkeit und Isolation führen. Aber wenn diese sozialen Bindungen nicht erfüllend sind oder gerade nicht vorhanden sind, ist es gut sich selbst zu genügen, denn dann stellt sich die Frage: „Wozu und für wen?“, nicht. 

Wir leben unser Leben und sind uns selbst genug. 

 

Jeder Mensch ist anders, auch wenn wir alle mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert werden, entscheidend ist, wie wir damit umgehen und dass wir die eigene Lebenssituation reflektieren um zu erkennen, was wir für unser „Wozu und für wen?“, brauchen, um Zufriedenheit und inneren Frieden zu erlangen.

 

"Und wenn dich morgens niemand weckt, und wenn abends niemand auf dich wartet, und wenn du tun kannst, was du willst. Wie nennst du das, Freiheit oder Einsamkeit?"

Milan Kundera 

 

Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de
 

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