Malerei: A. Wende
Als Reaktion auf meinen gestrigen Text haben mich auch einige Kommentare
und auch Nachrichten via Mail erreicht, die mich nachdenklich machen.
Einige Menschen meinten mir erklären zu müssen, warum mir das passiert ist und
was mein Anteil daran sei. Interessant, wir sind also beim Victim Blaming angelangt, was mir aus meiner
Arbeit mit Opfern von Gewalt immer wieder auch begegnet. Nun darf ich es am
eigenen Leibe erfahren.
Was ist Victim Blaming?
Victim Blaming bedeutet, dass die Verantwortung oder Schuld für eine schädliche
Tat oder ein Unglück fälschlicherweise der verletzten Person zugeschrieben
wird. Statt die Schuld beim Täter zu verorten, kommen Fragen nach Details über
das Opfer.
Was hat es getan?
Was hat es falsch gemacht?
Hat es durch sein Verhalten die Tat provoziert?
Hat es sich nicht deutlich abgegrenzt?
Hierbei wird implizit suggeriert, dass das Opfer durch sein Verhalten oder seine
Entscheidungen Mitverantwortung hat.
Die tatsächliche Schuld liegt jedoch beim Täter.
Denn nichts, aber auch nichts, rechtfertigt Gewalt.
Noch krasser wird es wenn aus der esoterischen Ecke das Gesetz des Spiegels
herangezogen wird. Im Sinne von: Das Opfer hat das angezogen! Im Klartext: Es
ist selbst schuld.
What the fuck! Geht’s noch?
Wenn wir vom „Gesetz des Spiegels“ sprechen, steht die Behauptung im Raum, dass
sich unser Denken und Fühlen im außen uns gegenüber widerspiegelt und es uns
demzufolge im Außen begegnet und materialisiert.
Nur so einfach ist es nicht.
Grundsätzlich beruhen die Spiegelgesetze zum Teil auf den Schattenprinzipien
von C.G. Jung, der formulierte, dass Menschen einen Schatten haben, also
bestimmte Anteile in sich selbst, die sie nicht mögen oder nicht ausleben. Wenn
uns etwas in einem anderen stört, ist das oftmals ein Zeichen, dass man einen
unerlösten Schatten hat. Nichts weiter.
Das esoterische Spiegelgesetz auf Opfer von Gewalt zu übertragen bedeutet: Die
Gewalterfahrung ist ein Spiegel, der zeigt, dass es seine eigene Aggression als
Schatten verdrängt und nicht auslebt und wach gerüttelt wird, indem man ihm den
Schatten, im wahrsten Sinne des Wortes, in die Fresse haut. Oder: das Opfer hat
selbst großes Gewaltpotenzial, das es nicht auslebt und es dann im Außen
erlebt. Bei Letzterem wird dann noch das Gesetz der Resonanz hinzugezogen, das
besagt, dass Gleiches immer Gleiches anzieht. Jetzt wird es ganz krude.
Bei beidem geht es um eine metaphorische oder eine esoterische Idee und um kein
wissenschaftlich anerkanntes Gesetz.
In Verbindung mit Victim Blaming kann diese Idee so verstanden werden: Dem
Opfer wird die Schuld zugeschreiben.
Es hat es ja angezogen.
Wozu führt das?
Das führt dazu, dass Opfer entwertet werden, sich schämen oder schuldig fühlen,
obwohl der Täter oder die Umstände der Auslöser sind. Statt bei den Fakten zu
bleiben und die Verantwortung beim Täter zu suchen, werden beim Victim Blaming
schuldzuweisende Narrative verwendet.
Das Gefährliche daran ist, dass dies Opfern zusätzlichen Schaden zufügt: Es
entwertet ihr Leid, verschafft dem Täter oder den Strukturen eine Tür zur
Schuldzuweisung und erschwert Hilfe, Meldung und Prävention.
Opfer werden stigmatisiert statt geschützt, was wiederum neue Muster von Gewalt
normalisiert.
Victim Blaming lässt sich auch aus einer reflexiven Perspektive erklären:
Hinter Victim Blaming verstecken sich persönliche Ängste oder Hilflosigkeit
derer, die es betreiben. Aus Angst heraus machen Menschen Victim Blaming oft
unbewusst, weil sie Schutz vor Unsicherheit suchen. Die Schuld beim Opfer zu
finden wirkt kontrollierbar und reduziert gefühlt das eigene Risiko Opfer zu
werden. Schuldzuweisungen beruhigen das Selbstbild, indem man glaubt, man
könnte, wenn man sich nur richtig verhält oder wenn man nur gute Gedanken hat,
Gefahr früh erkennen oder vermeiden.
Victim Blaming ist ein Macht- und Kontrollphantom, welches dazu dient das Opfer
zu entwerten, statt den Täter oder das System zu hinterfragen. Opfer werden so
stigmatisiert statt geschützt, was wiederum neue Muster von Gewalt
normalisiert.
Nicht hilfreich!
Was hilft? Täter und Strukturen in den Fokus rücken, Opfer unterstützen und
Gewaltprävention fördern.
Angelika Wende

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