Montag, 4. August 2025

Aus der Praxis: Skin Hunger - Berührungshunger

                                                                                   Malerei: A.Wende
 

 

Wenn uns lange niemand mit liebenden Händen berührt ist das, wenn wir Sehnsucht danach haben, und die hat jeder gesunde Mensch, schmerzhaft. Je länger das Nichtberühren dauert, desto schmerzhafter kann es sein. Berührung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Eine Umarmung, ein liebevolles Schulterklopfen, Streicheln, Kuscheln, Küssen, Sex - Nähe und Wärme sind existenziell wichtig für uns Menschen. Berührung lässt Babys schneller wachsen. Ein Mangel daran kann nachweislich krank machen. Umgekehrt können Berührungen sowohl bei körperlichen als auch psychischen Erkrankungen therapeutisch eingesetzt werden und heilsam sein. Wenn wir Menschen nicht berührt werden, verkümmern wir. Berührung ist gut für unsere Seele, für unser Immunsystem, für die kindliche Entwicklung, und im Umgang mit kranken und alten Menschen. 

 

Eine Hand halten, eine Umarmung beruhigen.

Berührung ist wichtig für unser Wohlbefinden. Berührung löst biochemische Prozesse aus, die unser neuronales und biochemisches Wachstum anregen.  

Die Haut ist das Organ, an dem unsere Identität hängt und das über eine eigene Intelligenz verfügt. Haut und Gehirn kommunizieren miteinander. Es gibt eine Verbindung von Haut und Gefühlen. Durch die Ausschüttung des Botenstoffs Oxytocin, das sich im Gehirn bei Berührung bildet, werden Stresshormone im Körper abgebaut. Das reduziert das Stresshormon Cortisol. Das wiederum reduziert nicht nur Ängste, sondern stärkt auch das Abwehrsystem. Denn ein Teil der Stressreaktion des Körpers ist die Unterdrückung von Immunfunktionen. Oxytocin bewirkt, dass wir ruhiger atmen, es senkt Herzschlag und Blutdruck, Blutgefäße erweitern sich, Oxytocin leitet auf neuronaler und auf körperlicher Ebene Entspannungsprozesse ein, unser Nervensystem beruhigt sich. Oxytocin schützt vor Krankheiten, es lindert Schmerzen und sorgt dafür, dass wir andere lieben und ihnen vertrauen können. Oxytocin spielt für das Zusammenleben eine große Rolle - es wirkt prosozial. Berührungen transportieren Emotionen und sie fördern ein harmonisches Miteinander. Ob körperlich, seelisch oder geistig: Berührung stellt Beziehungen und Zusammenhänge her. 

 

Was wird aus einem Menschen, wenn er zu wenig Berührung erfährt?

„Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag zum Überleben. Wir brauchen acht Umarmungen pro Tag zur Erhaltung. Wir brauchen zwölf Umarmungen pro Tag zum Wachsen .“

Diese Worte stammen von der Therapeutin Virginia Satir.

Umarmungen tun gut. Ohne Frage. Mittels einer langen Umarmung entfaltet das Hormon Oxytocin seine beruhigende Wirkung. Oxytocin wirkt unter anderem angstlösend und bindungsverstärkend. Vor allem Kinder brauchen viele Umarmungen um zu gedeihen, um sich angenommen, geborgen und geliebt zu fühlen.

Vier Umarmungen also täglich um zu überleben.

Aber was heißt das im Umkehrschluss?

Wer keine vier Umarmungen am Tag bekommt, stirbt.

Ob Kind oder als Erwachsener, wir Menschen brauchen Berührung. Was aber wenn wir diese nicht bekommen, weil wir singuläre Menschen sind oder weil wir in Beziehung sind und das Umarmen eine Seltenheit geworden ist.

Sterben wir dann?

Wir sterben nicht, jedenfalls nicht am Mangel an Umarmungen.

Auch wenn Alleinleben und Vereinsamung - was oft dauerhaftes nicht umarmt Werden beinhaltet - angeblich tödlicher ist als das Rauchen von 15 Zigaretten. Es gibt viele, die allein leben und viele Einsame, die noch dazu 15 Zigaretten rauchen und trotzdem nicht gleich tot umfallen. Dennoch, es macht etwas mit uns, nicht berührt zu werden - ohne Berührung verhungern wir emotional.  Skin Hunger nennt man es, ein Konzept das von dem Psychologen Harry Harlow erforscht wurde. Er konnte anhand von Experimenten mit Affen nachweisen, wie wichtig Liebe und Zuneigung für Kinder sind. Aber nicht nur Kinder brauchen Berührung, auch Erwachsene.

 

Berührt werden ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zuneigung. Berührungshunger ist ein Gefühl des Mangels an positiven Berührungen, das sich ähnlich wie Hunger anfühlen kann, und das, je länger der Mangel andauert, umso schmerzhafter empfunden werden kann. 

Wenn Berührung lange fehlt, kann Sinnleere die Folge sein. Wer nicht berührt wird, spürt sich weniger selbst – er wird seiner selbst ­unsicher oder sich selbst im ungünstigsten Falle fremd. Und das hat wiederum Folgen für seine Beziehungen zu anderen. Er wird misstrauischer. Nähe ist für ihn angstbesetzt. Er geht auf Distanz -  in dem Maße wie er eine innerliche Distanz zu sich aufgebaut hat. Er beginnt im wahrsten Sinne des Wortes zu fremdeln. Je mehr ein Mensch unter Nichtberührung leidet, desto höher ist die Gefahr seelisch und körperlich zu erkranken und langsamer zu genesen, wenn wir krank sind.

Die Auswirkungen von Berührungsmangel können sich u.a. auch in Stress, Ängsten, Depressionen, Bindungsängsten, sexuellen Dysfunktionen, Süchten und psychosomatischen Beschwerden äußern.

 

Unsere Zeit ist voll emotional Verhungerter und Unberührter.

Voll von Menschen, die Tag für Tag ohne Umarmungen leben müssen.

Berührungslos leben hat Folgen. Es macht etwas mit der Seele und mit dem Körper. Die tiefe Sehnsucht nach Hautkontakt bleibt ungestillt. Es ist wie mit einer Pflanze, die nicht gegossen wird – sie verblüht vor ihrer Zeit.

Virginia Satir hat Recht. Wir brauchen Berührung für ein gesundes Leben. 

Berührung ist wichtig, nicht nur um Nähe zu spüren, sondern um uns selbst zu spüren. Wenn wir berührt werden, fühlen wir uns gesehen, wertgeschätzt, gehalten und geliebt. Studien zeigen, wie sich Berührungen von ÄrztInnen oder Pflegekräften positiv auf kranke Menschen auswirken. Bereits eine leichte Berührung kann den Blutdruck und die Herzfrequenz senken. Kranke Menschen heilen schneller, wenn sie berührt werden.

Berührung kann trösten und heilsam sein und vor allem - sie schafft Verbundenheit. Berührung ist ein stiller, wortloser Dialog zwischen zwei Menschen. Sie geht über den Körper in die Seele. Berührung schafft Bindung und Vertrautheit. Jede liebevolle Umarmung löst Wohlgefühle aus.

 

Was können wir tun, wenn Haut und Seele weh tun von der Nicht-Berührung?

Was wenn da keiner ist, der uns liebevoll in den Arm nimmt?

Was können wir tun, um dieses heilsame Wohlgefühl zu bekommen?

Es braucht nicht immer einen anderen dazu, auch uns selbst berühren hilft.

Die Berührung warmer Gegenstände tut gut und macht großzügig.  

Zu dieser Erkenntnis gelangten in zwei Experimenten Lawrence Williams von der Universität von Colorado und John Bargh von der Yale Universität im Jahr 2008. Einerseits bewerteten Teilnehmer einen Fremden als großzügiger und fürsorglicher, wenn sie zuvor kurz einen Becher mit warmem Kaffee in Händen hielten. Andererseits sorgte ein Wärmekissen dafür, dass die Teilnehmer eher ein Geschenk für Freunde aussuchten als für sich selbst. 

Wärme tut also gut.

Das können wir für uns nutzen. 

 

Achtsam einen warmen Tee trinken.

Achtsamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper tut gut. Ein warmes Bad nehmen, uns mit warmem Öl selbst massieren, eine Wärmflasche auf den Bauch legen und warmes Licht anmachen hilft. Den alten Teddy aus Kindertagen in den Arm nehmen hilft. 

Selbstmassagen am ganzen Körper helfen zu entspannen.

Unsere Hände auf unser Herz oder auf unseren Bauch legen und tief und bewusst atmen beruhigt. Die Schmetterlingsumarmung (könnt ihr googlen) hilft, uns selbst zu spüren. Sie ist zudem eine wirksame Akuthilfe bei Stress oder Angstzuständen.

Massagen beim Physiotherapeuten sind Berührungen.

Auch das Streicheln eines Haustieres ist Berührung und berührt sein.

Auch schöne Dinge bewusst berühren hilft. 

Bewusst schmecken, was wir essen, hilft. Was wir zum Essen zubereiten bewusst berühren hilft. Bewegung, am besten draußen in der Natur, hilft. Die warme Sonne, aber auch Kälte oder Wind helfen, den Körper zu beruhigen, wenn er lange auf Berührungen verzichten muss. Kreativität, die in Flow versetzt, hilft. Malen, schreiben, die Seele von schöner Musik berühren lassen hilft. Worte, die uns berühren, helfen.

Jede Berührung zählt, jede ist heilsam, auch wenn wir nicht auf vier Umarmungen täglich kommen.

 

Wahr ist leider: Alles hilft nicht so richtig.

Wer nicht berührt wird, muss mit der Sehnsucht nach Berührung leben.

Aber was hilft gegen die Sehnsucht?

Vertrauen - darauf, dass es anders wird. Und das wird irgendwann so sein. Und gut zu uns selbst sein, so gut wir es vermögen.

Was noch?

Manchen Menschen hilft der Glaube.

Ein Mensch, der glaubt, unterscheidet sich vom dem, der nicht glaubt, dadurch, dass er glaubt, dass Gott ihn durch das, was er ihn erfahren lässt, berühren will. Dieser Glaube berührt die Seele auf einer höheren Ebene und befriedet sie. An etwas Größeres glauben in schweren Momenten öffnet die Bereitschaft für einen hoffnungsvollen Umgang mit der Sehnsucht. Darin liegt die heilsame Berührung im sich Sehnen. 

 

Möget Ihr berührt sein.

 

 

Angelika Wende

www.wende-praxis.de

 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen