Sonntag, 31. August 2025

Refraiming - raus aus dem engen Denkrahmen

 



 
Reframing ist eine Technik, die in der Psychotherapie, im Coaching und in der Konfliktlösung eingesetzt wird um unsere Wahrnehmung, die Deutung und Interpretation von Ereignissen, Situationen oder unserer eigenen Gedanken zu verändern. Mit anderen Worten beim Reframing wird ein bestehender „Rahmen“, also die Art, wie wir etwas empfinden und interpretieren, verändert, bzw. umgedeutet, um eine neue Bedeutung zu schaffen, die die Situation relativiert und entschärft, damit wir sie besser bewältigen können.
Dazu gehört auch, dem was ist, einen anderen Sinn zuzuweisen und zwar dadurch, dass wir versuchen, belastende Situationen oder Gedanken in einem anderen Kontext zu sehen.
Kurz: Wir durchbrechen unsere engen Denkmuster und erweitern den Rahmen unseres Denkapparates.
Mittels Reframing können wir ganz bewusst destruktive Gedanken oder negative Perspektiven in eine konstruktivere Sichtweise umdeuten und damit umwandeln. Das zentrale Element des Reframings ist der Perspektivwechsel. Anstatt eine Situation aus einer negativen oder einschränkenden Sichtweise zu betrachten, wird die Perspektive so verändert, dass neue, positivere Bedeutungen entstehen.
Hier ein paar Beispiele:
Das schaffe ich nicht - ich werde es versuchen
Ich weiß es nicht - ich werde es herausfinden
Ich kann das nicht - ich kann es lernen
Ich hasse Veränderungen - Veränderungen sind eine Chance um zu wachsen
Es funktioniert nicht - ich kann es üben
Ich habe einen Fehler gemacht - ich habe eine wichtige Lektion gelernt
Es ist zu spät - ich kann jetzt neu anfangen
Das ist eine Katastrophe - wer weiß wozu es gut ist
Ich stecke fest - ich mache eine Pause
 
Reframing beinhaltet auch die Betrachtung des Kontextes, in dem ein Ereignis auftritt. Oft zeigt sich, dass negative Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen, wenn man den größeren Kontext betrachtet udn die Dinge komplexer betrachtet. Etwas, was wir als Rückschlag empfinden kann durch Reframing, den Fokus auf eine bessere Möglichkeit lenken, die wir ohne den Rückschlag nicht gesehen hätten.
Eine der einfachsten Formen des Reframings ist die positive Umdeutung. Hierbei wird ein negativer Gedanke so umformuliert, dass er eine positivere Bedeutung erhält.
Statt zu sagen: „Ich habe nie Zeit“, können wir sagen : „Ich kann meine Zeit besser organisieren.“
Auch gezielte Fragen können helfen, neue Perspektiven zu entwickeln. Z.B. Was kann ich aus dieser Situation lernen? oder Wie könnte ich diese Herausforderung als Chance sehen? Wozu ist es gut?
Auch Visualisierungen können beim Reframing helfen, indem wir uns vorstellen wie eine schwierige Situation eine positive Wendung haben könnte.
Auch in zwischenmenschlichen Konfliktsituationen kann Reframing dazu beitragen, Missverständnisse auszuräumen und eine konstruktive Kommunikation zu fördern. Indem wir die Perspektiven aller Beteiligten berücksichtigen, können Lösungen gefunden werden, die für alle akzeptabel sind.
 
Reframing ist eine hilfreiche Technik zur Veränderung der Wahrnehmung und der Interpretation von Ereignissen. Es ist hilfreich um das Drama rauszunehmen, es erweitert den persönlichen Denkrahmen, entschärft festgefahrene Glaubenssätze, fördert die geistige und emotionale Resilienz und ermöglicht uns neue konstruktive und kreative Handlungsmöglichkeiten. 
 
 
Angelika Wende

Samstag, 30. August 2025

Warum ich mache, was ich mache

 


 
Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit der kollektiven menschlichen Erfahrung. Ich möchte meine Erfahrungen und mein Wissen so weitergeben, dass die individuellen Lebenswege anderer anerkannt werden und wir Menschen uns gegenseitig mit Respekt, Empathie und Verständnis begegnen.
Seit ich denken befasse ich mich mit der Suche nach einem Sinn, einem Zweck, der größer ist als mein individuelles Selbst, etwas, das über die eigene Persönlichkeit hinausgeht. Es geht mir um ein vertieftes, reifes Verständnis des Ganzen, um die Auseinandersetzung mit den komplexen Fragen der Existenz und der Identität, der Schöpfung und der Geschöpfe, dem Ursprung und dem Universum. Ich weiß, dass wir uns selbst befähigen können, tiefes Wissen zu erlangen, vorhandenes Wissen zu vertiefen und neue heilsame Ideen und Fähigkeiten zu entwickeln und diese im Sinne des Ganzen für das Ganze anzuwenden. Ich bin davon überzeugt, dass alles mit allem zusammenhängt und dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann - damit meine ich, das jeder Einzelne von uns zu mehr fähig ist, als er zu glauben vermag. 
 
Liebe, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Loyalität, Unabhängigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit sind mir wichtig. Ein Verständnis für die eigene Würde, Selbstachtung, Selbstfreundschaft und Selbstbestimmung ist mir wichtig. Ich stehe für meine eigene Wahrheit und meine Werte, auch wenn ich alleine da stehe. Was mich trägt ist mein unerschütterlicher Glaube an das Gute, das Wahre und das Schöne, trotzdem mir von allem das Gegenteil begegnet ist und immer wieder begegnet. Im Laufe meines Lebens und meiner Arbeit habe ich in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele geblickt. Ich schrecke nicht davor zurück. Ich weiß, dass auch das zum Menschsein gehört und ich es nicht abspalten kann, indem ich wegsehe. 
 
Ich habe es mir zu Aufgabe gemacht, Menschen zu inspirieren, ihren eigenen Heilungsprozess anzunehmen und Trost im Wissen zu finden, nicht allein zu sein.
Ich glaube daran, dass es möglich ist heilsame Gewohnheiten und Denkmuster zu entwickeln, die das Leben verbessern, wenn Menschen die Bereitschaft dazu haben. 
Es liegt mir daran bewusst zu machen, dass Heilung kein linearer Prozess ist.
Der Weg zur Genesung ist eine fortwährende Reise der Selbsterforschung, der Selbstfindung, der Selbstkenntnis, des Wachstums und der Transformation mit all den Höhen und Tiefen menschlichen Seins. Diese Reise führt uns zum Verständnis für unsere eigenen Wunden und deren Auswirkung auf uns und gleichzeitig führt sie dazu unser verborgenes Potenzial zu erkennen und es zu leben. Es geht darum unsere Wunden zu verarbeiten und sie in Quellen der Heilung zu verwandeln. Indem wir unsere Wunden annehmen und sie akzeptieren, können wie Selbstmitgefühl und ein neues Bewusstsein unserer Ganzheit erfahren. Dazu gehört für mich die Entwicklung eines gesunden Gefühlsausdrucks, der uns befähigt unsere Emotionen wahrzunehmen, anzunehmen und sie selbstbewusst und konstruktiv auszudrücken, weil ich weiß: Was sich nicht ausdrückt, drückt sich ein.
 
Meine Berufung ist es, Menschen auf ihrem Weg der Genesung zu inspirieren, zu begleiten und zu unterstützen. Ich besitze die natürliche Gabe und die Fähigkeit über oberflächlichen Schmerz hinauszublicken und die tieferen Lektionen und Wachstumsmöglichkeiten zu erkennen, die in ihm liegen. Ich habe meinen eigenen Heilungsprozess angenommen und erkannt, dass meine Wunden und meine vergangenen Kämpfe mir die Weisheit, das Mitgefühl und die Kraft gegeben haben, andere bei ihrer eigenen Transformation zu inspirieren und zu unterstützen.
Dafür bin ich dankbar.
 
An dieser Stelle gilt mein Dank auch Euch.
An all die Menschen, die ich bisher begleiten durfte, die ich im Jetzt begleiten darf und die mir Ihr Vertrauen schenken.
Mein Dank geht auch an all meine Leser.
Danke, dass Euch gibt.
 
Namasté
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

Mittwoch, 27. August 2025

Schönreden

 



Unser Gehirn verfügt über einen interessanten Mechanismus, den es einsetzt, wenn es mit etwas konfrontiert wird, das im Widerspruch zu unseren Überzeugungen und Bedürfnissen steht – es blendet aus oder redet es sich schön. Schön reden: günstig darstellen, beschönigen, herunterspielen, maskieren, positiv darstellen · romantisieren, schönen, schönfärben - all das kommt, wenn man das Wort googelt.
Schönreden ist die ideale Strategie, um weder an der Situation, noch an unserer Einstellung, noch oder an unserem Verhalten, etwas ändern zu müssen.
Viele Menschen neigen dazu, sich Dinge schönzureden, obgleich sie es nicht sind. Instagram und Co sind voll von Schönrednern, die ihr Leben als eine sprudelnde Dauerquelle des Glücks inszenieren, es romantisieren oder idealisieren. Toxic positivity ist Zeitgeist, basierend auf der unrealistischen Annahme, dass man immer und unter allen Umständen eine positive Einstellung haben soll, selbst im größten Elend.
Und wie´s da drinnen aussieht geht niemand was an. 
 
Einer der Gründe für dieses Verhalten ist die sogenannte kognitive Dissonanz, was bedeutet: Wir verspüren einen negativen Gefühlszustand, wenn wir unvereinbare Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten haben.  
Dieser innere Konflikt entsteht immer dann, wenn wir widersprüchliche Gedanken, Überzeugungen oder Gefühle haben. Um diesen unangenehmen Zustand zu vermeiden, minimieren viele Menschen die negativen Aspekte ihrer Realität, ignorieren sie ganz oder sie reden sich das Unschöne schön. Das geht so lange gut bis sich das Problem nicht mehr schönreden lässt, weil uns die Realität iregndwann knallhart erwischt.
 
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Schönredens ist der Schutz des Selbstwertgefühls. 
Fast alle Menschen wollen ein positives Bild von sich selbst und ihrer Situation abgeben und aufrechterhalten, und das Schönreden von negativen Situationen oder Entscheidungen hilft dabei. Jemand, der beispielsweise in einer unheilsamen Beziehung bleibt, redet sich ein, dass die Beziehung „schon okay ist“ oder dass „irgendwann alles besser wird“. Schönreden dient hier dazu, den Konflikt zu vermeiden, die emotional belastende Situationen zu entschärfen und keine Entscheidung treffen zu müssen, indem negative Aspekte heruntergespielt oder umgangen werden. Oder jemand trinkt regelmäßig zu viel Alkohol und behauptet er hätte es im Griff, wobei er in Wahrheit längst die Kontrolle über sein Trinkverhalten verloren hat.
 
Auch soziale Faktoren spielen beim Schönreden eine Rolle.
In Gruppen sind Menschen häufig dem Druck ausgesetzt, positiv zu erscheinen oder sich positiv über bestimmte Themen zu äußern, auch wenn ihre Lebensumstände und Lebensgefühl alles andere als positiv sind. Zum einen um den sozialen Erwartungen gerecht zu werden oder aus Angst als jemand wahrgenommen zu werden, der sich selbst und sein Leben nicht im Griff hat. Schönreden dient immer dazu unangenehme Situationen zu entschärfen, indem die Dinge klein geredet oder heruntergespielt werden. Manche Schönredner versuchen sogar die Wahrnehmung anderer zu beeinflussen, indem sie ihre Situation besser darstellen, als sie tatsächlich ist, um Zustimmung oder Bewunderung zu gewinnen.
Bei einem Jobverlust behauptet jemand beispielsweise, das sei eine „ super Gelegenheit für einen Neuanfang“, obwohl er innerlich besorgt ist und Angst vor der ungewissen Zukunft hat. Oder jemand ist verlassen worden und behauptet, er müsse diese Erfahrung machen um zu lernen sich selbst zu lieben und nicht mehr bedürftig zu sein, obwohl er unter der Trauer und der Einsamkeit nach der Trennung leidet wie ein Hund. Ein anderer leider unter dem Älterwerden und vertönt voller Inbrunst: Alter ist nur eine Zahl,! um sich mit dem eigenen Verfall und seiner Vergänglichkeit nicht auseinandersetzen zu müssen. 
 
Das sind nur einige Beispiele für kognitive Dissonanz, die dazu dient uns von der Wahrheit abzulenken und uns besser zu fühlen. Normalerweise ertragen wir kognitive Dissonanz nicht lange. Wir fühlen da stimmt etwas nicht, wir fühlen uns unwohl und suchen nach Möglichkeiten, diesen inneren Widerspruch aufzulösen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir offen und ehrlich zu uns selbst sind und aufhören die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, auch wenn sie uns nicht in den Kram passt.
Schönreden macht es nicht schöner als es ist, es verleugnet die Wahrheit, verschleiert das klare Denken und verzerrt die Realität. Um es mit den Worten von Philip K. Dick zu sagen: "Die Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben."
 
Viele Menschen haben Angst vor der eigenen Wahrheit.
Denn, würden sie sich ihr stellen, müssten sie sich nicht nur schmerzhaften Gefühlen stellen, sondern etwas verändern. Veränderung ist immer mit Unsicherheit und Angst vor dem Unbekannten verbunden und das wollen wir vermeiden. Das Schönreden hingegen ist ein Weg der Selbstverleugnung, um sich emotional in einem unangenehmen Zustand einzurichten, nach dem Motto: Besser das bekannt, vertraute Elend als das den Weg ins Unbekannte riskieren. 
 
Es sich schönreden heißt: Man verdrängt was ist.
Die Verdrängung ist ein weiterer Mechanismus, bei dem unangenehme Gefühle, Gedanken oder Situationen nicht bewusst wahrgenommen und ignoriert werden. Das führt am Ende dazu, dass unangenehme Emotionen abgewehrt, verleugnet, unterdrückt und nicht zugelassen werden. Statt Gefühle anzuerkennen und sie zu verarbeiten, werden sie weggewischt und eben schöngeredet, was langfristig unheilsame Folgen haben kann, weil uns alles Verdrängte irgendwann einholt. Uns die Dinge schön zu reden ist menschlich und es bringt kurzfristig Erleichterung, es kann jedoch langfristig zu massiven Problemen führen, wenn die Realität nicht konfrontiert wird. 
 
„Wir können eine Sache nicht verändern, wenn wir sie nicht akzeptieren“.
C.G. Jung
 
Angelika Wende

Dienstag, 26. August 2025

Nachreifung ist Selbstwachstum

 



 
Die Mehrzahl unserer psychischen Probleme entsteht wenn wir als Kind problematische oder unheilsame Beziehungen zu wichtigen frühen Bindungspersonen hatten und nicht in der Lage waren, diese lösen. Eine Vielzahl psychischer Störungen sind Ausdruck dessen, was an kindlichen Beziehungserfahrungen in veränderter Form bis in unser Erwachsenenleben fortbesteht und unsere Seele, unser Leben und aktuelle Beziehungen belastet. Mit anderen Worten: Die frühe Wunde ist nicht geheilt. Sie schwelt weiter und erzeugt weiter Schmerzen. 
 
Den meisten Menschen ist die Ursache für ihre Störungen, sowie ihre und inneren und äußeren Konflikte nicht wirklich bewusst. Viele wissen nicht, dass viele ihrer Probleme im Jetzt Ausdruck früherer Bindungserfahrungen sind. Wenn die Wunde sich schließen soll, ist das Bewusstmachen, das Verstehen und das Durcharbeiten der eigenen Lebensgeschichte von großer Bedeutung. Nur so können Probleme im Jetzt bewältigt und gelöst werden.
Durcharbeiten bedeutet Arbeit und diese Arbeit bedeutet, dass wir gefühlsmäßig durcharbeiten, was bewusst geworden und verstanden worden ist. Hierbei geht es letztlich darum als Mensch nachzureifen. Nachreifung bedeutet, dass kindliche, unreife und neurotischen Denk- und Verhaltensmuster in erwachsene, reife Formen transformiert werden müssen, um mit uns selbst und in unsere zwischenmenschlichen Beziehungen besser klar zu kommen. 
 
Für die Reifung der verschiedenen Bereiche des kindlichen Ichs, ist es laut Winnicott entscheidend, ob eine "genügend gute Mutter" da war, was heißt: Die Bezugsperson hat auf die Bedürfnisse des Kindes adäquat reagiert und zwar nicht nur mit liebevoller Zuwendung, sondern auch was die Regulation altersgemäßer Frustrationsreize angeht. Ist das nicht der Fall kommt es zu Störungen in der Ich-Entwicklung. Das Selbst reift nicht auf gesunde Weise. 
 
Bei der Nachreifung geht es um die Entwicklung neuer psychischer Strukturen, die ein wichtiger Bestandteil in der psychologischen Arbeit ist. Zunächst geht es darum das gegenwärtige Leid zu mildern und an seelischer Stabilität zu gewinnen. Nach und nach lernen wir dann, dass wir kein abhängiges, hilflos ausgeliefertes Kind mehr sind und in der Gegenwart selbstverantwortlich handeln können. Es geht, kurz gesagt, um die Nachreifung autonomer Ich-Funktionen.
Dazu gehört die Fähigkeit zur Bewältigung von Emotionen, die Fähigkeit die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verbessern und um die Fähigkeit unsere Denk- und Handlungsweisen selbst und angemessen wählen zu können um als gereifter Mensch adäquat auf die Herausforderungen des Lebens antworten zu können. Es geht zudem darum Frustrationstoleranz zu entwickeln, die in der Kindheit nicht ausreichend ausgebildet wurde und in disem Kontext um die Fähigkeit zur Selbstregulierung - mit dem Ziel ein selbstabhängiges, erfüllteres Leben zu führen. 
 
Nachreifung ist ein Prozess des Selbstwachstums, in dem wir durch therapeutische Interventionen und die aktive Arbeit an uns selbst lernen, unsere Persönlichkeit weiterzuentwickeln, um zu wachsen.
Mit anderen Worten: Wenn das verletzte Innere Kind endlich bekommt, was es braucht um die Wunde zu schließen, kann es erwachsen werden.
 
"Sei geduldig mit dir selbst. Selbstwachstum ist empfindlich, es ist heiliger Boden. Es gibt keine größere Investition."
Bernhard Zitzer
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wendepraxis.de

Samstag, 23. August 2025

Vermutungen

 

                                                                Malerei: A.Wende

 
 
Vermutungen sind ein alltäglicher Bestandteil menschlicher Denkprozesse. 
Leute vermuten häufig und gern. Leider können Vermutungen oft mehr schaden als nützen. Der Hauptgrund, warum Vermutungen nichts bringen, liegt in ihrer Unzuverlässigkeit. Wer vermutet weiß nichts. Nichts Genaues jedenfalls.
 
Vermutungen basieren immer auf unzureichenden Informationen, subjektiven Eindrücken und Annahmen über etwas oder über jemanden.  
Sie sind Konstruktionen unseres Denkapparates, die alles andere als zuverlässig, geschweige denn wahr sind. Wer vemutet macht es sich denkbar einfach. Denken ist nun mal anstrengend. Tief und komplex denken ist noch anstrengender. Oder wie es C.G. Jung so treffend formuliert: „Thinking is difficult, that's why most people judge" oder vermuten, um dann zu urteilen.
By the way: Das Hirn liebt es, wenn es einfach ist. 
Am Liebsten spult es ab, was es schon kennt, weil das ohne Anstrengung ganz von selbst, quasi automatisch geht. Und Vermutungen sind denkbar einfach, man vermutet mal, ohne das Ganze überhaupt begreifen zu wollen oder zu können. Ungut, denn so manche Vermutung kann uns selbst und andere in die Irre führen. Wenn wir Annahmen treffen, ohne ausreichende Informationen oder Daten zu haben, riskieren wir falsche Schlüsse zu ziehen. Dies kann zu Missverständnissen in Beziehungen, zu unnötigen Missstimmungen und Konflikten führen.
 
Was Vermutungen zudem problematisch macht, ist ihre Tendenz, Vorurteile zu verstärken.  
Wenn wir beispielsweise annehmen, dass jemand, den wir nicht einmal kennen, aufgrund seines Verhaltens so und so ist oder ein bestimmtes Motiv hat, ist unsere Wahrnehmung dieser Person nicht nur spekulativ, sondern bruchstückhaft und verzerrt. Solche Verzerrungen hindern uns daran, anderen gegenüber offen und unvoreingenommen zu sein. Nicht selten führt dies zu Bewertungen, Urteilen und Vorurteilen, die mit der Realität nichts zu haben, die aber leider Realität unseres zwischenmenschlichen Miteinanders sind. 
 
Allerorten wird viel vermutet und wenig gewusst.
Wenn wir uns auf Annahmen stützen, anstatt die Dinge oder unser Gegenüber wirklich verstehen zu wollen, bewegen wir uns immer im Bereich des Ungewissen und des Nichtwissens. Anstatt zu fragen, was durchaus hilfreich wäre um zu verstehen, wird vermutet. Eine Unart, wie ich finde. Anstatt Klarheit zu suchen, was etwas mehr Mühe macht als bloßes Vermuten, wird spekuliert.
Meistens erfolglos.
 
Vermutungen fördern letztlich nur Verwirrung.
Sie bringen nichts, da sie auf unzuverlässigen Informationen basieren. Und nicht selten führen sie, wie gesagt, zu Missverständnissen und Vorurteilen. Um bessere Entscheidungen zu treffen und gesündere zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen, macht es durchaus Sinn, all die sinnlosen Vermutungen und subjektiven Annahmen zu hinterfragen. Nur so schafft man eine fundierte Grundlage für das eigene Denken und Handeln und den Boden für ein achtsames Miteinander.

Donnerstag, 21. August 2025

Gambatte


          

   頑張っ

     

 

Gambatte!, sagt ein lieber Freund zu mir. 

Das ist japanisch und bedeutet so viel wie "durchhalten" auf eine fernöstliche, kämpferische, samuraiartige Weise.

Gambatte!

Ich werde mein Bestes geben.

Dienstag, 19. August 2025

Schuldschuhe

 


 

Schuldschuhe sind bequem.

Sie sind gut eingelaufen.

Wir tragen sie schon sehr lange.

Manchmal, an guten Tagen, lassen wir sie stehen.

Wissen, dass es nicht unsere Schuld ist und, dass Schuld und Schuldgefühle zweierlei sind.

Erkennen, dass Schuldgefühle niemand nützen und uns nur in der Starre halten.

Dort, wo wir immer schon waren.

Begreifen, dass es nicht um Schuld geht, sondern um Ursache und Wirkung 

und um Verantwortung.

Aber dann stellt uns jemand die Schuldschuhe wieder hin.

Und wieder ziehen wir sie an.

Die Schuhe sind ja auch bequem.

Sie sind bequem, und sie sind ausgelatscht.

Ausgelatschte Schuhe sind nicht gesund fürs Gehen.

 

 

Montag, 18. August 2025

Lesen ist heilsam

 



Ich lese seit ich lesen kann. Ich lese wie ich schreibe, viel.
Lesen hat mich schon als Kind gerettet, wenn die Welt um mich herum unerträglich war. Im Lesen der Geschichten anderer fand ich Verbundenheit. Ich fand Worte, die mir zeigten, du bist nicht allein, so wie du denkst, fühlst und bist.
Lesen war und ist Balsam für meine Seele.
Lesen ist heilsam.
Die heilsame Wirkung von Literatur macht sich die Bibliotherapie zunutze. Ich empfehle meinen KlientInnen - lesen sie. Und ich empfehle ihnen - schreiben sie Tagebuch.
Weil ich weiß, Worte haben Macht.
Worte berühren und sie können ausdrücken, was wir fühlen. Worte, landen sie auf dem Papier, sind Zeugen unserer inneren Welt. Sie helfen uns, uns selbst besser zu verstehen und zu fühlen, was wir fühlen. Sie beschreiben unsere innere Welt und die äußere Welt in der wir leben und machen sie fassbarer.
 
Innere Welten öffnen sich in Romanen, in Gedichten und Biografien. Anhand der Worte können wir vieles für uns mitnehmen. Sie können sich zu unserer inneren Welt legen und wir sind nicht mehr allein. Worte können wie ein Echo sein, sie können uns Antworten auf Fragen geben, sie zeigen uns, dass es vieles im Leben gibt, was archetypisch ist, dass wir Menschen ähnliche Strukturen, Muster, Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen haben. Lesen ist heilsam, weil es uns über uns selbst hinausführt, hin zu anderen, zu den Protagonisten der Geschichten. Wir können uns mit ihnen identifizieren. Wenn wir lesen können sogar Probleme, die uns belasten, relativiert werden oder sich auflösen. Es wird ruhiger innen, friedlicher, wir tauchen in eine andere Welt ein und vergessen die Zeit. Wir sind im Flow.
Worte können in der Tat psychisch und physisch spürbare Veränderungen bewirken. Sie können Gefühle regulieren und dämpfen. Das weiß man aus der Neurobiologie.
 
Lest!
Lesen kann beruhigen, es fördert die Empathie und stärkt die kognitive Gesundheit. Es kommt zur Stressreduktion. Das Eintauchen in eine Geschichte lenkt vom Alltagsstress ab und senkt nachweislich den Stresspegel. Lesen ermöglicht uns Abstand zu gewinnen, Gefühle zu benennen und Muster unseres eigenen Verhaltens besser zu verstehen. Wir wechseln die Perspektive. Uns in Figuren hineinzuversetzen fördert das Verständnis für das Menschliche in uns selbst und anderen. Regelmäßiges Lesen trainiert das Gedächtnis, die Konzentration und die mentale Flexibilität. Geschichten und Poesie können Trost spenden und Hoffnung schenken. Lesen kann Fragen zum Sinn, zu unseren Werten und unseren Lebenszielen aufwerfen. Es kann helfen Antworten und Orientierung zu finden, wenn wir uns lost fühlen. Und last but not least: Lesen ist Achtsamkeit im Alltag. Der Fokus beim Lesen wirkt wie eine Achtsamkeitsübung wirken, weil wir bewusst aufmerksam bleiben.
Pina Bausch sagte einmal: "Tanzt, tanzt, sonst wir verloren."
Ich füge hinzu: Lest, lest, sonst sind wir verloren.
 
 
Angelika Wende

Samstag, 16. August 2025

Das verlassene Innere Kind

 


                                                          Malerei: A.Wende

 

 

Sehnt sich nach Liebe und Nähe

Hat zugleich Angst vor Nähe

Vertraut anderen nicht, auch wenn sie es gut mit ihm meinen

Läuft Menschen hinterher, die emotional nicht erreichbar sind

Fühlt sich auch unter vielen Menschen einsam 

Isoliert sich

Verwechselt Aufmerksamkeit und Sex mit Liebe

Tut alles, weil es endlich geliebt sein will

Ist bedürftig und hat unstillbaren Zuneigungshunger

Ist bereit alles dafür zu geben, bis hin zur Selbstaufgabe

Glaubt, es muss sich anstrengen und um Liebe und Zuneigung kämpfen

Sucht ständig nach Halt im Außen und findet keinen Halt in sich selbst

Entschuldigt sich für Fehler, die nicht seine Fehler sind

Fühlt sich für alles schuldig und schämt sich für sich selbst

Unterdrückt seine Gefühle und betäubt sich mit Süchten und selbstzerstörerische Verhalten, weil es glaubt den Schmerz nicht aushalten zu können

Glaubt, dass das Leben es bestraft, weil es schlecht und falsch und kaputt ist

Fühlt sich noch immer als Opfer und weiß nicht, dass es Schöpfer ist.

 

 

Freitag, 15. August 2025

Aus der Praxis: Zeichen der Genesung


 


Du bist geistig und emotional präsenter und fähig dich selbst zu beobachten.
Du hast ein besseres Selbstverständnis und mehr Selbstkenntnis.
Du bist dir deiner Emotionen und der Auslöser, die sie beeinflussen, bewusst.
Du bist bei dir selbst, auch wenn sich deine Stimmungen, Gedanken und körperliche Empfindungen ändern.
Du bist in der Lage deine Überlebensstrategien, Selbstzustände, Gefühle, Gedanken und Empfindungen zu erkennen und angemessen damit umzugehen.
Du kannst dich besser und schneller selbst regulieren und selbst beruhigen. Du hast mehr Kontrolle über deine emotionalen Reaktionen.
 
Du erkennst deine Trigger und machst eine Pause bevor du automatisch reagierst.
Du nutzt den Raum zwischen Reiz und Reaktion.
Du hast nicht mehr das Bedürfnis Trauma-Trigger wie Menschen, Orte, Gegenstände zu vermeiden.
Du erholst dich schneller von Rückschlägen.
Du gibst keine unnötige Energie in Dinge, die es nicht wert sind.
Du kämpst weniger gegen dich selbst. Du steigst nicht in die Kämpfe und Dramen anderer ein. 
 
Du ziehst dich nicht mehr in die Isolation zurück, du hast Interesse an gesunden Beziehungen.
Du hast mehr Selbstvertrauen beim Setzen und Aufrechterhalten deiner Grenzen in Beziehungen.
Du kannst deine Bedürfnisse und Gefühle effektiver kommunizieren.
Es fällt dir leichter, dir selbst und anderen zu vertrauen.
Du weißt, dass das Vertrauen gebrochen werden kann und du weißt auch, dass du damit klar kommen kannst.
Du erkennst Red Flaggs.
Es zieht dich nicht mehr magisch zu Menschen, die dir nicht guttun.
Du achtest auf einen Ausgleich von Geben und Nehmen.
Du hast kein Problem damit, nicht verstanden zu werden.
Du hast nicht mehr das Bedürfnis von allen gesehen und gemocht zu werden.
Du priorisierst deine eigenen Bedürfnisse und dein Wohlbefinden und gibst dich nicht mehr für andere auf. 
 
Du kannst gut mit dir alleine sein.
Die Stille im Alleinsein ist nicht mehr bedrohlich.
Du musst nicht ständig kommunizieren, chatten, telefonieren, mailen, scrollen, wenn du dich allein oder einsam fühlst.
Du hast Einsamkeitsfähigkeit geübt und gelernt.
Du kannst dich der Langeweile, der Leere, deinen Ängsten, deinen eigenen Abgründen und deiner inneren Unruhe stellen und damit umgehen, ohne automatisch in den Freeze, fight, flight Modus zu fallen.
Du weißt, was dir gut tut und tust es.
Du hast Freude an alltäglichen Aktivitäten und Erlebnissen und lebst intensiver im Hier und Jetzt.
Sie bist fürsorglicher, freundlicher und verständnisvoller dir selbst gegenüber.
Du hast mehr Selbstmitgefühl.
Deine Selbstgespräche sind wohlwollend, tröstend, motivierend und gütig und nicht vernichtend. 
 
Du fühlst dich in deinem Körper wohl und sicher, bist mit ihm verbunden und spürst, was er wann braucht.
Du fütterst ihn, ebenso wie deinen Geist und deine Seele, mit heilsamer Nahrung.
Du nimmst deine Bedürfnisse wahr und sogst besser und kontinuierlich für dich.
Du fragst dich öfter : Was ist jetzt hilfreich?
Du betäubst dich nicht mehr mit Substanzen oder ungesunden Ablenkungen.
Du schläfst besser.
Du fühlst dich energiegeladener und weniger müde.
Du hast eine Morgenroutine und eine Tagesstruktur, die dir Halt gibt.
 
Du hat ein tieferes Verständnis dafür, in welcher Weise deine Vergangenheit und deine Gegenwart miteinander verbunden sind und doch unterschiedlich sind. Du kannst vergangene Ereignisse akzeptieren, ohne dich ständig damit zu beschäftigen oder zuzulassen, dass sie deine Gegenwart kontrollieren.
Du hast aus vergangenen Herausforderungen und Erfahrungen gelernt und bist fähig dich flexibler an neue Situationen anzupassen.
Du bist öfter bewusst im Jetzt und weniger in der Trance nach hinten.
 
Was auch immer du erlebt hast, wer auch immer dich verletzt hat – du suchst keinen Abschluss mehr und hängst nicht an einem Wiedergutmachungswunsch. 
 
Du weißt, du musst nicht alles alleine schaffen, und kannst um Hilfe bitten.
 
Du bist dir darüber bewusst, dass Genesung ein Prozess ist und dass es normal ist, auf dem Weg Rückschläge zu erleben. Du bist geduldig mit dir selbst, feierst auch kleinste Fortschritte und suchst weiterhin Unterstützung, wenn du sie brauchst. 
 
Angelika Wende

Mittwoch, 13. August 2025

Victim Blaming

 

                                                           Malerei: A. Wende



Als Reaktion auf meinen gestrigen Text haben mich auch einige Kommentare und auch Nachrichten via Mail erreicht, die mich nachdenklich machen.
Einige Menschen meinten mir erklären zu müssen, warum mir das passiert ist und was mein Anteil daran sei. Interessant, wir sind also beim Victim Blaming angelangt, was mir aus meiner Arbeit mit Opfern von Gewalt immer wieder auch begegnet. Nun darf ich es am eigenen Leibe erfahren.

Was ist Victim Blaming?
Victim Blaming bedeutet, dass die Verantwortung oder Schuld für eine schädliche Tat oder ein Unglück fälschlicherweise der verletzten Person zugeschrieben wird. Statt die Schuld beim Täter zu verorten, kommen Fragen nach Details über das Opfer.
Was hat es getan?
Was hat es falsch gemacht?
Hat es durch sein Verhalten die Tat provoziert?
Hat es sich nicht deutlich abgegrenzt?
Hierbei wird implizit suggeriert, dass das Opfer durch sein Verhalten oder seine Entscheidungen Mitverantwortung hat.
Die tatsächliche Schuld liegt jedoch beim Täter.
Denn nichts, aber auch nichts, rechtfertigt Gewalt.

Noch krasser wird es wenn aus der esoterischen Ecke das Gesetz des Spiegels herangezogen wird. Im Sinne von: Das Opfer hat das angezogen! Im Klartext: Es ist selbst schuld.
What the fuck! Geht’s noch?

Wenn wir vom „Gesetz des Spiegels“ sprechen, steht die Behauptung im Raum, dass sich unser Denken und Fühlen im außen uns gegenüber widerspiegelt und es uns demzufolge im Außen begegnet und materialisiert.
Nur so einfach ist es nicht.
Grundsätzlich beruhen die Spiegelgesetze zum Teil auf den Schattenprinzipien von C.G. Jung, der formulierte, dass Menschen einen Schatten haben, also bestimmte Anteile in sich selbst, die sie nicht mögen oder nicht ausleben. Wenn uns etwas in einem anderen stört, ist das oftmals ein Zeichen, dass man einen unerlösten Schatten hat. Nichts weiter.

Das esoterische Spiegelgesetz auf Opfer von Gewalt zu übertragen bedeutet: Die Gewalterfahrung ist ein Spiegel, der zeigt, dass es seine eigene Aggression als Schatten verdrängt und nicht auslebt und wach gerüttelt wird, indem man ihm den Schatten, im wahrsten Sinne des Wortes, in die Fresse haut. Oder: das Opfer hat selbst großes Gewaltpotenzial, das es nicht auslebt und es dann im Außen erlebt. Bei Letzterem wird dann noch das Gesetz der Resonanz hinzugezogen, das besagt, dass Gleiches immer Gleiches anzieht. Jetzt wird es ganz krude.
Bei beidem geht es um eine metaphorische oder eine esoterische Idee und um kein wissenschaftlich anerkanntes Gesetz.
In Verbindung mit Victim Blaming kann diese Idee so verstanden werden: Dem Opfer wird die Schuld zugeschreiben.
Es hat es ja angezogen.

Wozu führt das?
Das führt dazu, dass Opfer entwertet werden, sich schämen oder schuldig fühlen, obwohl der Täter oder die Umstände der Auslöser sind. Statt bei den Fakten zu bleiben und die Verantwortung beim Täter zu suchen, werden beim Victim Blaming schuldzuweisende Narrative verwendet.
Das Gefährliche daran ist, dass dies Opfern zusätzlichen Schaden zufügt: Es entwertet ihr Leid, verschafft dem Täter oder den Strukturen eine Tür zur Schuldzuweisung und erschwert Hilfe, Meldung und Prävention.

Opfer werden stigmatisiert statt geschützt, was wiederum neue Muster von Gewalt normalisiert.

Victim Blaming lässt sich auch aus einer reflexiven Perspektive erklären: Hinter Victim Blaming verstecken sich persönliche Ängste oder Hilflosigkeit derer, die es betreiben. Aus Angst heraus machen Menschen Victim Blaming oft unbewusst, weil sie Schutz vor Unsicherheit suchen. Die Schuld beim Opfer zu finden wirkt kontrollierbar und reduziert gefühlt das eigene Risiko Opfer zu werden. Schuldzuweisungen beruhigen das Selbstbild, indem man glaubt, man könnte, wenn man sich nur richtig verhält oder wenn man nur gute Gedanken hat, Gefahr früh erkennen oder vermeiden.
Victim Blaming ist ein Macht- und Kontrollphantom, welches dazu dient das Opfer zu entwerten, statt den Täter oder das System zu hinterfragen. Opfer werden so stigmatisiert statt geschützt, was wiederum neue Muster von Gewalt normalisiert.
Nicht hilfreich!

 Was hilft? Täter und Strukturen in den Fokus rücken, Opfer unterstützen und Gewaltprävention fördern.

Angelika Wende

 

Dienstag, 12. August 2025

Wenn etwas „Gewalt“ ist, dann ist es schlecht, mehr noch, es ist verwerflich

 



Buddha zufolge hat man bereits versagt, wenn man auf Gewalt zurückgreifen muss. Wenn etwas „Gewalt“ ist, dann ist es schlecht, mehr noch, es ist verwerflich.
Ich kenne Gewalt, ich habe sie als Kind schon erlebt. Ich habe emotionale und körperliche Gewalt erlebt. Ich habe ein Trauma davongetragen. Ich habe das Trauma integriert.
Gestern wurde ich tätlich angegriffen von einer fremden Frau im Bus. Ich habe körperliche Gewalt erlebt. Ich habe es dem Busfahrer gesagt, er meinte, das sei nicht sein Problem. Auch die anderen Fahrgäste meinten, es sei nicht ihr Problem. In diesem Moment fühlte ich mich isoliert in einer Blase voller Lärm, in der niemand wirklich sehen wollte, was geschieht. Ich weiß nicht, was mich fassungsloser macht, der tätliche Angriff oder die Ignoranz und die Gleichgültigkeit meiner Mitmenschen.
Nicht mein Problem! Das ist die Einstellung der Masse. Empathie? Irgendwie ausgestorben. Auch so manche Kommentare meiner Mitmenschen, als ich davon erzähle, haben mich fassungslos gemacht.
Mir sind menschliche Abgründe vertraut. In meiner Arbeit mit Menschen haben sich schon unzählige vor mir aufgetan.
 
Ich weiß um die Selbstsucht, den Narzissmus, die Gleichgültigkeit und das Fortschreiten dieser immer narzisstisch werdenden Gesellschaft. Ich schreibe in meinem Blog und in meinen Bühern dagegen an. Ich weiß, dass es nichts ändert. Ich tue es dennoch, weil ich nicht anders kann, weil ich nicht stumm und wortlos zusehen kann wie die Dinge sind und sich entwickeln – zum Unguten und zum immer Schlechteren. Ich schreibe um etwas im Bewusstein der Menschen anzustoßen. Ich weiß, dass es nichts hilft. Ich schreibe trotzdem, weil ich nicht anders kann.
Ich bin ein friedlicher, ruhiger Mensch, ich lebe zurückgezogen. Und mische mich selten unter die Menge. Ich bin Pazifistin und ich bin gegen jede Form von Gewalt. Ich sehe in der Praxis immer wieder Menschen, denen Gewalt angetan wurde und tue mein Bestes um ihnen zu helfen diese traumatische Erfahrung zu verarbeiten. Ich weiß wie schwer das ist. Jetzt stehe ich vor der Herausforderung mir selbst zu helfen.
 
Der Schock des Angriffs, bei dem niemand im Bus zu intervenieren wagte, verwandelt sich heute Morgen in eine Mischung aus Trauer und Sorge. Sorge, weil ich nicht weiß, was das mit mir machen wird. Trauer weil ich verletzt wurde. Nicht nur körperlich, auch seelisch. Diese Fremde hat ihre Aggressionen, ihre Wut und ihren Hass auf mich gerichtet. Sie hat meine Körperliche Unversehrtheit verletzt. Sie hat eine Grenze überschritten. Ich hatte keine Chance.
Ich wollte nur aus einem übervollen Bus austeigen und bat sie mich bitte rauszulassen. Sie tat als hörte sie es nicht. Ich bat sie noch einmal. Sie schrie mich an, beleidigte mich mit den übelsten Worten und als ich sie fragte: Wo ist Ihr Problem, schrie sie: „Du bist mein Problem“, und dann tat es plötzlich weh. Der Schmerz war ein Schock.
 
Dieses Bild aus dem Bus ist noch heute morgen klar und deutlich in meinem Kopf. Das vom Hass verzerrte, kalte Gesicht dieser Frau sehe ich so klar vor mir, dass ich es malen könnte. Dieser Augenblich völliger Überraschung sitzt mir in den Gliedern. Ich konnte nichts tun, es geschah einfach. Ich hatte keine Kontrolle über die Situation. Ich fühlte mich ohnmächtig und hilflos. Kontrollverlust und Ohnmacht sind Aspekte eines traumatischen Erlebnisses. Ein Trauma ist eine psychische Ausnahmesituation, die durch ein überwältigendes Ereignis ausgelöst wird, das eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit darstellt. Ich weiß das.
Ich will das nicht zulassen. Ich will kein Opfer sein, dachte ich gestern Abend und heute Morgen denke ich, ob du willst oder nicht – du bist ein Opfer. Sei ehrlich zu dir, mach dir nichts vor. Opfer sinnloser, erbärmlicher Gewalt einer erbärmlichen Seele, die ihre Wut und ihren Hass ausagiert hat. Der Ekel erfasst mich. Den Ekel habe ich gestern bevor ich zu Bett ging versucht abzuduschen. Er ist noch immer da. Die Opferrolle werde ich jedoch nicht spielen. 
 
Ich könnte diesen Menschen anzeigen. Ich werde es nicht tun. Ich weiß, dass man die Frau nicht finden wird, ja sich nicht mal die Mühe machen wird sie zu suchen. Wie auch? Eine Anzeige gegen Unbekannt. Es gibt Schlimmeres als das, womit sich die Polizei beschäftigen muss. Diese Welt ist voller Gewalt und mir war klar, dass selbst im Alltag unerwartete Gefahren lauern können. Es kann jeden treffen. Es hat mich getroffen.
Ich frage mich nicht, warum ich? Warum nicht ich? Weil ich friedliebend bin? 
 
"Zu erwarten, dass einen die Welt gerecht behandelt, weil man ein guter Mensch ist, kommt dem gleich, zu erwarten, dass ein Stier einen nicht angreift, weil man Vegetarier ist“, ist ein bekanntes Zitat von Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie.
Warum ich? Die Frage stellt sich mir nicht.
Was fange ich damit an? Was kann ich daraus lernen. Was ist die Lektion?
Das frage ich mich.
 
Ich habe bereits etwas gelernt. Zum Beispiel, dass Menschen, von denen ich glaubte, sie wären mir von Herzen verbunden, es nicht sind, dass gerade jene, von denen ich es gedacht habe, mich nicht gefragt haben, ob ich okay bin, sondern nur wissen wollten, was genau passiert ist oder sich über den Aggressor Gedanken machten. Ich habe gelernt, dass ich noch besser auf mich aufpassen muss. Ich habe wieder begriffen, dass ich nur mir selbst vertrauen kann und dass es meiner Verantwortung liegt, wie ich mit dem was ist, umgehen will. Ich habe wieder einmal begriffen wie fragil wir Menschen sind und dass von einem Moment auf den anderen alles anders sein kann. Nichts ist sicher, aber das wusste ich schon vorher. Was ich nicht wusste, ist was es mit einem Menschen macht, wenn er mitten in einer Menschenmenge tätlich angegriffen wird und niemand ihm hilft. Das weiß ich jetzt. Na dann, auch das meinte das Leben mir zeigen zu müssen.
 
Wozu ist das gut?
Ich fühle jetzt meine KlientInnen noch besser, die ähnliches erleben mussten.
Wozu es noch gut ist, werde ich noch herausfinden. Auch was ich über mich selbst noch zu lernen habe. Was es weiter mit mir macht, werde ich beobachten und mir Hilfe holen, wenn ich nicht klar komme. Und was den Aggressor angeht: Mieses Karma.