Montag, 2. Juni 2025

Aus der Praxis: Einsamkeit und Scham

 



Einsamkeit mittlerweile zu einer Art Massenphänomen geworden. Sie zieht sich durch alle Altersschichten hindurch, manche sprechen sogar von einer Einsamkeitsepedemie.
Viele sind einsam.
Man sieht sie nicht.
Man hört sie nicht.
Weil sie schweigen.
Aus Scham.
 
„Wer einsam ist hat etwas falsch gemacht, ist sozial inkompatibel, ein Außenseiter einer, der sich nicht integrieren kann oder will, ein Sonderling, ein Versager auf dem Gebiet menschlichen Miteinanders. Er ist selbst schuld.“
Solche Stigmatisierungen sind erstens falsch und zweitens führen sie dazu, dass sich einsame Menschen nicht outen, weil sie sich schämen.
Einsamkeit ist ein subjektives Empfinden und die Ursachen dafür sind vielfältig. Fragt man Menschen wie sich Einsamkeit anfühlt, findet fast jeder andere Worte um das Gefühl zu beschreiben. Einsamkeit ist ein Gefühl und ein Zustand.
Im Zustand der Einsamkeit empfinden wie einen ganzen Cocktail von Gefühlen und alle sind unangenehm bis schmerzhaft. Unbehagen, Wut, Ohnmacht, Trauer, Angst, Panik, Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit, Resignation, Verzweiflung, Verbitterung, das Gefühl der Andersartigkeit und eben auch die Scham gehören dazu.
Scham, Selbstmitleid, Selbstabwertung, Spaltung, Selbsthass, Selbstzerstörung sind oft die Folgen lang anhaltender Einsamkeit. Langeweile gehört dazu. Alleinsein gehört dazu, nicht verbunden sein, nicht dazuzugehören, von allem und jedem getrennt sein und sich so fühlen, gehört dazu. Je länger der Zustand der Einsamkeit anhält, desto stärker werden diese Gefühle.
An manchen Tagen sind sie für Betroffene so unerträglich, dass sie körperliche Schmerzen verursachen. An anderen Tagen ist es erträglicher und man kommt klar. Einsamkeitsgefühle unterliegen Schwankungen, je nach Dauer, Gemütszustand und Tagesform.
Einsame sind allein in sich selbst und viele sind allein unter anderen - sie sind innerlich einsam. Im Zeitalter der um sich greifenden Einsamkeit sind es immer mehr Menschen, die sich mit der Einsamkeit herumschlagen müssen. Die Herausforderung ist, sich ihr zu stellen und irgendwie damit umgehen zu lernen oder im Idealfall - sie zu beseitigen. Letzteres ist schwerer als so manche Tipps und gut gemeinte Ratschläge uns glauben machen wollen. Rausgehen, Kontakte suchen, heißt es. Menschen treffen, egal wie, egal wo, als oberste Priorität, um die Einsamkeit zu beenden.
Schön und gut.
Aber Kontakte sind nicht gleich die Kontakte, die der Einsame sucht – er sucht nach dem Gefühl von tiefer und echter Verbundenheit und das findet er nicht in beliebigen Kontakten mit anderen und schon gar nicht beim Rausgehen. Man kann einen ganzen Tag in der Stadt oder sonstwo herumlaufen ohne einen menschlichen Kontakt zu haben, der über die paar Worte mit der Kassiererin im Supermarkt hinausgeht.
Es kommt nicht auf die Quantität an, sondern auf die Qualität der Kontakte um das Gefühl von Einsamkeit zu beseitigen. Und diese Qualität findet sich nicht so leicht. Das Gegenteil ist der Fall, sie findet sich höchst selten. 
 
Ich habe KlientInnen, die suchen seit einer Ewigkeit, sie tun alles um in Kontakt zu kommen, es funktioniert nicht. Je länger es nicht funktioniert, desto größer wird die Scham, es nicht zu schaffen, nicht fähig zu sein, auch nur einen Menschen zu finden, mit dem man zumindest das kleinste Gefühl von Resonanz und Verbundenheit spürt.
Die Einsamkeit wirkt dann wie ein Vergrößerungsglas für die Scham, sie wird groß und größer, so groß, dass der Einsame alle Versuche rauszugehen und sich zu zeigen einstellt. Er möchte am liebsten im Erdboden versinken. 
 
Die Scham konserviert die Einsamkeit.
Aus Scham wird Rückzug und Isolation.
Die Scham schützt die Einsamkeit und die Einsamkeit schützt die Scham.
Weil er sich schämt, bleibt der Einsame einsam.
Die Scham kann so groß werden, dass die Einsamkeit hingenommen wird wie eine Strafe für das eigene soziale Versagen, dessen man sich dann beschuldigt.
Über Scham redet es sich noch schwerer als über die Einsamkeit und das ist das Fatale daran – der Einsame verstummt. Er schweigt, traut sich nicht mehr zu sprechen, es auszusprechen. 
 
Was der Scham entgegensetzen?
Du musst dich nicht schämen!
Sinnlos. Es hilft nichts, es macht die Scham nicht kleiner und nicht weg.
Was hilft, ist genau das, was die Scham verhindert: Sprechen. Das Schweigen beenden.
Und wenn da keiner zum Zuhören ist, sich professionelle Hilfe suchen. Dafür muss sich niemand schämen. 
 
“Einsamkeit kommt nicht davon, keine Menschen um sich herum zu haben, sondern davon, unfähig zu sein, die Dinge zu äußern, die einem wichtig sind oder seine eigenen Standpunkte zu vertreten, die andere als unzulässig finden.”
 
C.G.Jung
 
Angelika Wende

1 Kommentar:

  1. Aus meiner Lebenserfahrung mit mir und anderen Menschen habe ich gelernt: Einsamkeit verschwindet nicht durch Kontaktsuche - wie Du ja auch schreibst. Sondern durch die Verschiebung des Fokus, weg vom Betrachten der Einsamkeit und des Leidens an ihr, hin zur Suche nach dem, was man gerne tut, egal ob allein oder mit anderen.

    Ein echtes Interesse an etwas, das dann auch Herausforderungen mitbringt, ist der Ausstieg aus der Selbstbezüglichkeit der Einsamkeitsgefühle. Und egal was es für ein Interesse ist, das ins Handeln, Ausprobieren, Forschen etc. bringt, ist es dann relativ einfach, über dieses Interesse auch Kontakte zu knüpfen - die dann nicht mehr als oberflächlich empfunden werden, weil sie an gemeinsames Interesse und Tun anknüpfen.

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