Mein Klient
lebt allein, er hat eine dysfunktionale Familie und kaum Kontakt zu ihr, er hat
keine Kinder, keine Freunde und schon lange keine Beziehung mehr. Seine sozialen
Kontakte finden hauptsächlich auf der Arbeit statt. Die Abende und die
Wochenenden verbringt er allein.
"Wozu, für
wen leben?", fragt er mich.
"Ja", sagt er,
gleich darauf, "ich weiß schon – für mich selbst, aber was bedeutet es denn für
mich selbst zu leben?"
Gute Frage.
Was bedeutet es?
Für jeden
etwas anderes.
Für jeden
ein anderes Gefühl.
Für jeden
ein anderer Umgang.
Für jeden
eine andere Bewertung.
Ich habe
mich nach der Sitzung gefragt: Was bedeutet es für mich, für mich selbst zu leben?
Zunächst
einmal bedeutet es, Entscheidungen zu treffen, die im Einklang mit meinen Werten
und Bedürfnissen stehen und danach zu handeln. Das beinhaltet die Fähigkeit,
die eigene Identität zu erkennen und zu akzeptieren, unabhängig von den Vorstellungen,
Erwartungen und Meinungen anderer. Es beinhaltet mir meiner selbst bewusst zu
sein, also ein gewisses Maß an Selbstkenntnis und das wiederum bedeutet: ich
habe ein inneres Verständnis meiner selbst. Ich kenne meine Stärken, meine Schwächen,
mein Licht und meine Schatten. Ich weiß, was mir am Herzen liegt und was mir im
Leben wichtig ist und welchen Weg ich gehen möchte. Authentizität spielt eine
zentrale Rolle. Echt zu sein und mich nicht zu verstellen oder zu verbiegen, um anderen zu
gefallen oder um dazuzugehören, meine Meinung und meine Gefühle zu äußern,
selbst wenn sie von der Mehrheit abweichen, es bedeutet - unabhängig von
äußeren Meinungen oder sozialen Normen zu sein. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen,
die für mein eigenes Wohlbefinden wichtig sind, selbst wenn sie von anderen
nicht verstanden oder akzeptiert werden.
Wer für
sich selbst lebt und keine Fürsorge und Liebe von außen bekommt, für den ist Selbstfürsorge
und Selbstliebe überlebenswichtig.
Liebevolle Güte und Selbstmitgefühl im Umgang
mit sich selbst. Sich spüren und wissen, was man braucht um nicht emotional zu
verhungern. Menschen, die für sich selbst leben, müssen sich aktiv um ihr
eigenes Wohlbefinden kümmern, sei es emotional, körperlich oder geistig, denn da ist niemand, der das für sie tut. Sie
müssen, um ein gelingendes Leben zu führen, für sich selbst eine hinreichend
gute Mutter und ein hinreichend guter Vater sein. Dazu gehört Halt in sich selbst zu spüren. Dazu gehört auch, Grenzen zu
setzen und Nein zu sagen, wenn es nötig ist um das eigene Seelenheil zu
schützen.
"Kann man
auch ohne eine Beziehung und ohne Freunde ein gutes Leben leben?", fragte mein
Klient weiter. Die Antwort ist komplex und hängt von verschiedenen
Faktoren ab. Es ist durchaus möglich, dass ein Mensch ohne diese sozialen
Bindungen Glück und Zufriedenheit empfindet.
Das Zauberwort heißt: Selbstgenügsamkeit
Der entscheidende Faktor für ein Leben ohne enge
Beziehungen ist die Fähigkeit zur Selbstgenügsamkeit. Dies setzt voraus, dass wir
uns selbst und das Leben wertschätzen.
Selbstgenügsame Menschen finden Sinn und Resonanz
mittels ihrer Interessen, ihrer Leidenschaft für ihr Tun und an der Entdeckung
ihrer eigenen Persönlichkeit. Nicht im Sinne von „sich permanent um sich selbst
drehen“. Die zwanghafte Beschäftigung mich sich selbst hat damit nichts zu tun,
es geht darum ein tiefes inneres Verständnis für sich selbst zu entwickeln. Selbstgenügsame
Menschen genießen es, ihre Zeit alleine zu verbringen, und empfinden dabei
keine innere Leere oder Einsamkeit. Sie brauchen keine Aufmerksamkeit von außen.
Wenn sie mit Menschen zusammenkommen, ist ihnen die Qualität der Beziehungen wichtiger
ist als Quantität. Sie finden in wenigen, aber tiefen Beziehungen mehr
Erfüllung als in vielen oberflächlichen Bekanntschaften. Haben sie diese tiefen
Beziehungen nicht, sind sie sich selbst genug. Sie wissen, was sie brauchen um
ihre Zeit zu füllen und wie sie ihr Qualität und Wert verleihen.
Jemand der gerne malt, kann Stunden damit verbringen, jemand
der gerne schreibt, kann Stunden damit verbringen, jemand, der sich gerne
Wissen aneignet, kann Stunden damit verbringen. Er ist im Flow, er ist erfüllt,
ohne dass er dafür soziale Interaktionen benötigt – er genügt sich selbst. Sein
Fokus liegt auf seinen persönlichen Interessen, die Freude bereiten.
Menschen, die für sich selbst leben, haben die Freiheit,
ihre Zeit und ihre Energie in ihre Leidenschaften und Visionen zu investieren.
Das kann zu einer tiefen Selbstverwirklichung führen.
Es ist möglich, dass sie
in Bereichen wie Kunst, Musik, Philosophie, Wissenschaft oder Reisen ihre Erfüllung
finden. Wenn ich z.B. alleine reise, kann ich tiefgreifende Erfahrungen machen,
interessante Begegnungen haben und die Welt und mich selbst besser
kennenlernen, ohne auf einen Begleiter angewiesen zu sein.
Sicher brauchen wir alle soziale Interaktionen, denn sie
sind oft entscheidend für das seelische Wohlbefinden.
Wir Menschen sind von
Natur aus soziale Wesen und der Mangel an erfüllenden sozialen Bindungen kann
zu Einsamkeit und Isolation führen. Aber wenn diese sozialen Bindungen nicht
erfüllend sind oder gerade nicht vorhanden sind, ist es gut sich selbst zu
genügen, denn dann stellt sich die Frage: „Wozu und für wen?“, nicht.
Wir leben
unser Leben und sind uns selbst genug.
Jeder Mensch ist anders, auch wenn wir alle mit
ähnlichen Herausforderungen konfrontiert werden, entscheidend ist, wie wir
damit umgehen und dass wir die eigene Lebenssituation reflektieren um zu
erkennen, was wir für unser „Wozu und für wen?“, brauchen, um Zufriedenheit und
inneren Frieden zu erlangen.
"Und
wenn dich morgens niemand weckt, und wenn abends niemand auf dich
wartet, und wenn du tun kannst, was du willst. Wie nennst du das,
Freiheit oder Einsamkeit?"
Milan Kundera
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de