Dienstag, 4. November 2025

Ich habe Gefühle, aber bin nicht meine Gefühle!

 



Vielen Menschen fällt es schwer ihre Gefühle zu benennen. Ebenso fällt es vielen schwer zu verstehen, dass sie mehrere Gefühle gleichzeitig haben können.
Wir können unsere Gefühle nicht benennen, in die richtigen Schubladen sortieren und angemessen damit umgehen, wenn es uns an Achtsamkeit uns selbst gegenüber fehlt. Es kommt zu inneren Spannungen. Haben wir mehrerer Gefühle gleichzeitig wird es noch schwerer.
Ambivalenz -lateinisch ambo „beide“ und valere „gelten“ - nennt man einen inneren Zustand, der geprägt ist von einem inneren Konflikt. Dieser Konflikt entsteht, wenn sich widersprechende Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse und Wünsche gleichzeitig nebeneinander bestehen und wir sie nicht einordnen können.
Um Gefühle einordnen zu können müssen wir sie zuerst einmal wahrnehmen können. Wir müssen bereit und fähig sein sie zuzulassen, sie da sein zu lassen und sie bewusst zu fühlen, um sie zu benennen. Da die meisten von uns das als Kind nicht gelernt haben, müssen wir das jetzt lernen oder eben nicht. Die Entscheidung obliegt jedem selbst.
Wenn es um Gefühle geht, glauben viele Menschen sie zuzulassen ist schwer aushaltbar oder sogar unerträglich. Darum versuchen sie unangenehme und schmerzhafte Gefühle zu vermeiden oder zu unterdrücken. Ich sehe es so: Unsere Gefühle selbst sind nicht schwer aushaltbar, sondern unsere Bewertung und unser Umgang damit macht es uns schwer ihnen zu begegnen.
 
Es gibt den berühmten Satz des Psychiaters Roberto Assagioli, der lautet: "Ich habe Gefühle, aber bin nicht meine Gefühle!"
Mit anderen Worten: Meine Gefühle sind da, aber ich identifiziere nicht mein ganzes Sein ausschließlich mit diesen Gefühlen.
Ich fühle mich zum Beispiel traurig, aber es gibt einen Anteil in mir, der dennoch Freude empfinden kann, also beide Gefühle sind da – gleichzeitig. Sie sind in mir, aber ich „bin“ nicht dieses eine oder andere Gefühl. Ich „habe“ beide. Und vielleicht zur gleichen Zeit noch einige andere. Das ist normal und es ist okay!
 
Ich habe Gefühle, aber bin nicht meine Gefühle!
Dieser Gedanke erlaubt uns, eine Art der Distanz zu finden, die Gefühle erkennt und sortiert. Wir schauen sie uns an, benennen sie und überlegen, ob sie der Situation angemessen sind.
Jedes Gefühl löst einen Handlungsimpuls aus.
Haben wir keine Distanz zu unseren Gefühlen handeln wir automatisch, wir folgen ihnen reflexartig. Gelingt es uns aber Distanz einzunehmen, was Assagioli "Desidentifikation" nennt, haben wir die Möglichkeit zu entscheiden, welche Reaktion der Situation angemessen ist. Das heißt nicht, dass wir Gefühle unterdrücken, im Gegenteil – jedes Gefühl hat seine Daseinsberechtigung - aber nicht jedes Gefühl hat das Recht uns zu beherrschen oder uns derart zu überfluten, dass wir keine Handlungsfreiheit mehr haben.
Je klarer wir ein Gefühl benennen können und die Situation, die das Gefühl ausgelöst hat identifizieren können, desto mehr Distanz erreichen wir. Wer das kontinuierlich übt, erlangt mit der Zeit die Fähigkeit zu erkennen, was er wirklich fühlt und ob das Gefühl und die darauf folgende Reaktion der Situation angemessen ist. So kann sich z.B. eine Zurückweisung zunächst wie Wut anfühlen, in Wahrheit aber ist das Gefühl, das hinter der Wut steckt, Enttäuschung, Traurigkeit oder Verlustangst.
 
Viele Schwierigkeiten und Konflikte entstehen, weil Menschen sich mit ihren Gefühlen identifizieren und denken, sie seien diese.  
Je besser es uns gelingt unsere Gefühle zu beobachten und zu benennen und aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten, desto ruhiger, gefasster, klarer und überlegter können wir agieren. Indem wir unsere Gefühle beobachten und verstehen, lernen wir allmählich sie zu leiten. Umso besser verstehen wir uns selbst und projizieren unsere Gefühle nicht mehr auf andere, die sie zwar auslösen können, aber nicht dafür verantwortlich sind wie wir uns fühlen.
Auf diese Weise werden wir mehr und mehr Herr im eigenen Gefühlshaus. Wir werden uns uns selbst bewusster, wir können uns emotional besser regulieren, wir lösen Abhängigkeiten auf, finden mehr Klarheit und Ruhe in uns selbst und werden fähig verschiedene Aspekte unserer Persönlichkeit in eine Ganzheit zu integrieren.
 
"Emotions are not to be conquered, they are to be understood."
C.G.Jung
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

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