Montag, 22. November 2010

Was ist Kultur? Eine subjektive Reflexion

Anthropologisch verstanden deckt das Wort „Kultur“ alles ab, vom Ackerbau, über die Kleidung, das Fußballspiel, bis hin zum Besuch eines Theaterstückes. Nach der anthropologischen Definiton hat der Begriff Kultur eine Bandbreite grenzenloser Möglichkeiten. Daher besteht auch die Schwierigkeit einer allgemeinverständlichen, allgemeingültigen und allgemein akzeptierten Definition des Begriffs Kultur. Der Begriff Kultur hat in der Moderne die Schwammigkeit eines Ausdrucks, der alles umfasst, was von Menschen geschaffen ist und menschliches Handeln angeht. Nach der anthropologischen Definition ist der Begriff Kultur die Angelegenheit einer Massenkultur, die eine Fülle von Subkulturen lebt und praktiziert.

Kultur, im klassischen Sinne, verstanden als Geist, Schöpfungs, Bildungs- und Werteprinzip, dient ihrem Denkansatz und ihrer Ausübung nach dem, was menschliche Seinsverwirklichung und Entwicklung ausmacht. Ihrem Wesen nach ist Kultur im klassischen Sinne die komplexeste Form menschlicher Veredelung mit dem Ziel einer bewussten, kultivierten (gepflegten), menschlichen Lebensweise im Sinne von: Was der Mensch sein könnte, in seinem Denken und Handeln, individuell und kollektiv, im Umgang mit sich selbst und anderen.

Die Fülle der Subkulturen, wo Fast Food, wie der Hamburger zum Kulturgut, im Sinne von Esskultur, mutiert ist führt nicht zu menschlicher „Veredelung“ – sie führt mehr und mehr zur Verfettung eines Volkes. Diese Art von Kultur wendet sich gegen das Prinzip „mens sana in corpero sano“, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.

Medialer Subkultur, die heute allgemein als Kultur empfunden wird, haftet oft Ungesundes und Destruktives an. Ungesundes und Destruktives zeigt sich auch in TV- Formaten, in welchen freiwillige Protagonisten „vorgeführt“ und im schlimmsten Fall der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Auf diese Weise werden sukzessiv menschliche, ethische und moralische Werte wie Respekt, Achutung, Würde und Toleranz im Rahmen eines Medienspektakels zerstört und letztlich zerschlagen. Interessant dabei, am Rande bemerkt, ist der Aspekt des Opfer-Täter Themas, das sich hier relativiert und verkehrt. Mittels dieses, durch permante Wiederholung nachhaltig sich verfestigenden Wahrnehmungsstimulus wird suggeriert: Wer freiwillig handelt ist kein Opfer. Der in der Tat „handelnde“ Protagonist wird aber vom Publikum dennoch als solches wahrgenommen, verachtet, bemitleidet oder verurteilt. Die „Täter“ (die Moderatoren) werden bewundert. Wer ist hier Täter und wer ist Opfer, oder sind beide Beides und wer sind die wahren Täter?

Kausal sind diese Auswüchse einer verdrehten Scheinwelt von jenen inszeniert, die derartige Sendungen kreieren. Nachdenkenswert ist die Frage: Aus welcher Motivation heraus und mit welcher Absicht werden solche Formate entwickelt und von den verantwortlichen Entscheidern abgesegnet? Die degenerative Beeinflussung der Gedanken- und Gefühlswelt eines Volkes als kulturelles Massenprogramm? Ist das Kultur?

Die subkulturelle Macht der Medien wird unterschätzt: Aufgrund ihrer Verbreitung in Millionen Haushalte sind Fernsehen und Internet nahezu allmächtig und nur durch konsequentes Selektieren des Einzelnen (was will ich sehen, was nicht?) kontrollierbar. Aber, wie bewusst ist der Einzelne? In den Spaßgesellschafts- Formaten der medialen Unterhaltungsindustrie, wie etwa „Deutschland sucht den Superstar“, wird ein Menschenbild inszeniert, das mit Wertschätzung und Toleranz, Achtung und Respekt vor dem Gegenüber wenig zu tun hat. Der Mensch wird hier vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit durch Bewertung Einzelner in seiner Individualität und Integrität verletzt und damit vor dem Kollektiv, in diesem Fall der Masse der Fernsehzuschauer, „entwertet“. Ob freiwillig oder nicht.

Die durch das Fernsehen unterstützte und propagierte Entwertung des Menschen, betrieben durch fragwürdige Vorbildfiguren, wird als Normalität in zwischenmenschlicher Kommunikationsform verinnerlicht und somit zur gesellschaftlichen akzeptierten und adaptierten Norm. Die kognitive Erfahrung, die so konditioniert wird, ist eine durch das Fernsehen gestützte und legalisierte Missachtung des Menschen in seinem Menschsein. Darin liegt die Gefahr einer kulturellen Verrohung des Subjekts. Man stelle sich das in etwa so vor: „Der Bohlen beleidigt doch auch die Leute …also darf ich das auch“.

Wie ist es möglich, dass ein Staat sich über eine schleichende Verrohung wundert, die ihre Auswüchse in einer Zunahme von Gewaltdelikten, besonders unter Jugendlichen und Familien hat, wenn er dem tabu- und ethiklosen Treiben der Medien kritiklos zuschaut? Und wie gefährlich ist der Gegensatz zwischen Alltagsrealität, wo das ökonomische Überleben im Focus steht und dem, was die Medien uns an schöner Konsumwelt vorgaukeln?

Er zeigt sich an den Randgebieten als Ausdruck einer Subkultur, welche sich auf einer allgemeinen Verrohung durch die Medien, auf dem Bodensatz einer Gesellschaft in der Krise, einer Vermehrung sozialer Randgruppen (Migranten, Arbeitslose, arbeitslose Jugendliche) und einer wachsenden Orientierungslosigkeit gründet. Diese Menschen ziehen ihre ungesunde Nahrung aus Perspektivlosigkeit und diffuser Angst, welche durch das Kippen des bröckelnden Sozialstaates Deutschland wächst, dessen Auffangsysteme mehr und mehr in sich zusammenfallen. Mit dem Effekt, dass Frustration, Ohnmacht und Wut wachsen, die sich mehr und mehr in der Öffentlichkeit, inmitten der Strassen, entlädt.

Hohe Arbeitslosigkeit, breite Verarmung, die immer weiter zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich, die Perspektivlosigkeit der Jungen und die Hoffnungslosigkeit derer, die doppelt gedemütigt wurden, weil ihre Leistungen nichts mehr gelten und weil sie im System keine Chance mehr haben - das ist der Nährboden für den Verlust aller Regeln, Empathie und Humanität.

Wer in der Werbung täglich vorgegaukelt bekommt, was für ein "gutes Leben" nötig ist, aber keine Chance hat dieses durch ehrliche Arbeit zu erreichen, wer gleichzeitig erlebt wie die der Staat für Eigenwerbung Geld verpulvert, wie sich durch Spekulation riesige Einkünfte ansammeln, wie arbeitslose Menschen stigmatisiert und von Politkern via Fernsehen über einen Kamm geschert werden, wie subtile Feindbilder geschaffen werden - wie wird der reagieren? Ein Staat, der die soziale Polarisierung immer weiter vorantreibt wird in ihrem Gefolge Korruption und Kriminalität, Extremismus, Rassismus und Gewalt finden.

Viele Menschen leiden daran, dass ihre reale Lebenssituation, die von Angst geprägt ist und vom lähmenden Gefühl der Ausweglosigkeit beherrscht wird, permanent von den Erlebensmöglichkeiten einer Reizkultur überdeckt wird, die ihnen vorgaukelt, dass alles möglich ist. Sie spüren die Lüge und den Verrat.

Ist das Kultur? Und in wieweit ist der Staat mitverantwortlich für das, was Kultur sein soll und als solche kommuniziert und gelebt wird?

Um zu einer Sinn machenden Definition des Begriffs KULTUR zu gelangen müssen wir uns dem Begriff der Kulturkritik zuwenden. Weiter wenden wir uns damit folgerichtig einer Differenzierung des Begriffs Kultur zu: einem Kulturbegriff, der darauf basiert, dass Kultur einst ein geistiger Begriff war. Dieser definiert Kultur als ein ausdifferenziertes Teilsystem der modernen Gesellschaft, dass sich auf intellektuelle und ästhetische Weltdeutungen spezialisiert und von der Massenkultur abgrenzbar scheint. Mit dieser Option soll Kultur aus diesem Teilsystem heraus nach außen, in die Massenkultur wirken und zwar kritisierend, konstruktiv und mit Vorbildfunktion.

„Erst dem Tun entspringt das Sein. Tun ist gestalten, formen, bilden“, schreibt der Kulturphilosoph Ernst Cassirer.

Wenn das Tun aber sinnentleert ist und zu affektiver Verrohung und Verdummung führt – welche Gestalt formt es dann und was bildet es heraus?

Massenkultur versus Kultur?

Hier befinden wir uns zwischen einem entmutigenden und quälend engen Kulturbegriff, den jede der „kulturellen“ Gruppen für sich vehement verteidigt, besonders deshalb, weil die Identitätsbildung einer Gruppe stark mit ihrer gelebten Kultur verbunden ist. Wenn Kultur alles bedeuten soll, was von Menschen gemacht ist und nicht von Natur aus gegeben ist, dann gehören die Medienkultur, die emotionale Verrohung, die Gewalt und die Angst dazu. Die Massenkultur weicht die Ästhetik eines sinnhaften Kulturbegriffs auf. Ist die Idee der Kultur damit heute in der Krise? Oder gehen Kultur und Krise seit jeher Hand in Hand? Nie zuvor war Kultur weniger ein geistiger Begriff als im Zeitalter der Medien und der Reizüberflutung. Kulturkritiker sprechen von Reizkultur. Kultur heute ist ein Schlagwort für alles und jedes. Ein Begriff den sich jedermann gefügig machen kann, weil er nicht geschützt ist und aufgrund seiner anthropologischen Definition unendlich ausweitbar.

Wir stecken in einem Dilemma, zumindest die, denen die Kultur als Nahrung für Seele, Geist und Körper, in ihrem Ethos, den sie meiner Ansicht nach bedingt, wertvoll ist. Wie etwas verfolgen, wie etwas umsetzen, von dem keiner mehr weiß was es bedeutet? Wie damit umgehen, wenn einer behauptet, Skateboarden und Komasaufen sei für ihn mehr Kultur als Literatur, Kunst, Musik oder philosophisches Denken.

Die Feinde der Kultur sind die Dummheit, die Ignoranz, die Unfähigkeit zur Selbstreflexion, das Bedürfnis nach endloser Betäubung durch äußere Reize, die Gier nach Genuss und Befriedigung und das Streben nach Haben in einer Welt in der sich das Sein ausschließlich über das Haben definiert.

Wer für die Kultur und im Sinne der Kultur arbeit will sicher nicht ein Wiederaufleben der bürgerlichen Hochkultur, die ausschließlich einer Elite zugänglich ist. So wird sie zu einer Minderheitsangelegenheit und verfehlt ihren Zweck, nämlich das Herausbilden von Funktionalem und das Erhalten von Werten. Kultur heißt immer auch Tradition und Entwicklung - und dies zum Besseren hin. Aber wer entscheidet was das Bessere ist? Die Medien sicher nicht. Die Wirtschaft sicher nicht. Der Staat? Überlassen wir die Kultur dem Staat, so wird die Kultur politisch und damit unfrei und im Zweifel, wie die Geschichte zeigt, zum Machtmittel mit verheerenden Folgen.

Kulturelle Entwicklung und Veränderung bedeuten: jenes, was vom Alten, Erprobten, Traditionellen, Sinnvollen, Menschlichem, Wertigem und Sinngebenden funktioniert und sich bewährt hat mit hinüber zu nehmen in das Neue. Es geht nicht um Innovation um jeden Preis, es geht um Integration, auch mit dem Ziel einer Individuation des Einzelnen im Kollektiv, denn dieses besteht letztlich aus Einzelnen, um das Beste für das Ganze durch den Einzelnen zu bewirken.

Die Verfassung der Menschenrechte fordert in Art. 15 das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben. Entscheidend für ein sinnvolles und sich zur Humanität hin entwickelndes kulturelles Leben ist, zu erkennen, was zu prosaisch ist, was zu destruktiv ist, zu zersetzend um als Kultur empfunden und verbreitet zu werden.

Der Kulturphilosoph Ernst Cassirer befand, dass der Mensch nicht in einem physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum lebt, dessen Bestandteile Sprache, Mythos, Kunst; Religion, Wissenschaft und Politik sind. Dieses von den Menschen selbst geschaffene Netz verfeinert sich nach Cassirer mit jedem Fortschritt in Erfahrung und Denken. Massenkultur aber, die dem Menschen sichtlich und fühlbar schadet ist kein Fortschritt in Erfahrung und Denken und damit keine Kultur. Wäre dies so, stellt sich die Frage: ist der Vernunft in einer Welt der Sinnentleerung Sehen und Hören vergangen?

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