Aus meinem Buch: Weil ich endlich geliebt sein will ...
Sucht hat viele Erscheinungsformen. Aber alle Süchte haben eins gemeinsam: Sie sind der Versuch schmerzliche Erfahrungen und Gefühle nicht spüren zu müssen. Sie zu betäuben, weil sie unaushaltbar scheinen. „Sucht = Schmerz“, schreibt der Arzt, Sucht-und Traumaexperte Gabor Maté in seinem Buch „Im Reich der hungrigen Geister“. Und weiter: „Wo immer Suchtverhalten auftritt, kann man fragen welcher Schmerz nicht gefühlt ist. Die erste Frage lautet nicht: Warum die Sucht?, sondern warum der Schmerz?“
Süchtige tun alles um Schmerz zu vermeiden.
Sie tun alles um das Gefühl der Leere zu vermeiden.
Diese innere Leere ist Kern jeder Sucht.
Die Leere, die entsteht, wo tiefes Unbehagen mit sich selbst herrscht, das bis hin zum Selbsthass gehen kann. Die Leere, die entsteht wo ein riesiger Mangel herrscht an Liebe und eine Überfülle an Verzweiflung, Schmerz und Leid.
„Was ist Sucht wirklich? Sie ist ein Zeichen, ein Signal, ein Symptom der Verzweiflung. Sie ist eine Sprache, die uns von der Notlage erzählt, die verstanden werden muss“, schreibt Alice Miller in Abbruch der Schweigemauer.
Sucht ist immer der verzweifelte Versuch das Problem des emotionalen Schmerzes zu lösen und immer führt sie zu keiner Lösung, sondern zu Siechtum, wenn sie nicht gestoppt werden kann.
Ich habe von Kind an mit Sucht zu tun. Mein Vater trank, meine Mutter war abhängig von Beruhigungstabletten. Beide konnten die Sucht irgendwann in ihren späteren Jahren stoppen. Der Vater meines Sohnes wurde nach einem Schicksalsschlag alkoholkrank. Er ist an seiner Sucht früh verstorben. Mein letzter Partner war alkoholkrank. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt und hat nach einem Herzinfarkt jetzt drei Stents im Herzen. Er trinkt weiter. Ich habe ein Buch über Sucht und Co-abhängigkeit geschrieben. Sucht ist ein Thema, das mein Leben durchzieht. Ich arbeite mit Suchtkranken und mit Co-abhängigen. Ich kenne den Schmerz, die Verzweiflung und das Leid beider Seiten, weil ich es selbst erlebt und gefühlt habe. Wenn ich auf all diese Menschen blicke, kann ich Gabor Maté beipflichten: Süchtige leiden an sich selbst. Süchtige sind verzweifelte Menschen.
Ich weiß aus Erfahrung, es gibt für sie nichts, was sie mehr bedroht als die Vorstellung von ihrem Suchtmittel lassen zu müssen. Denn die Angst davor, die Verzweiflung könnte dann so groß werden, dass sie sie zerbricht, ist größer als die Krankheitseinsicht und die Kraft die Sucht zu stoppen. Und weil diese Vorstellung so bedrohlich ist, schaffen es viele nicht aufzuhören. Sie bleiben süchtig.
Das Suchtmittel wirkt wie ein keines Wunder. Es bietet all das, was diesen Menschen aus sich selbst heraus nicht gelingt und was kein anderer Mensch ihnen geben kann – es beruhigt, es betäubt, es verschafft gute Gefühle. Es ist wie eine universelle warme Umarmung, ein Gehaltensein, das keine weltliche Liebe geben kann. Endlich ist es gut. Für Momente in der Zeit ist die Verzweiflung aufgelöst.
Darum geht es: diesen Moment wiederhaben wollen, immer wieder, weil dann Ruhe ist. Endlich ist Ruhe im Kopf, in der Seele, im Herzen.
Sucht ist Sehnsucht und Siechtum. Viele Süchtige wissen das, sie wissen es und können nicht einfach aufhören, auch wenn sie es wollten.
Längst ist da der Kontrollverlust, das unkontrollierbare Verlangen nach dem Suchtmittel oder dem Suchtverhalten, die Unfähigkeit frei zu entscheiden, ob, wann und wie viel konsumiert wird, die Unfähigkeit das selbstschädigende, aber Erlösung versprechende Vorhaben gegen die eigene Einsicht und Vernunft durchzusetzen. Viele Süchtige merken erst dann, dass sie die vollends die Kontrolle verloren haben, wenn sie sich dem Suchtmittel entziehen wollen.
Gegen die Sucht anzukämpfen ist unfassbar schwer.
Für den Süchtigen und für den, der den Weg der Genesung mitgeht, in welcher Funktion auch immer.
Es ist ein Kampf gegen einen mächtigen Gegner, der einerseits barmherzig und anderseits unbarmherzig ist. Barmherzig, weil der die Verzweiflung kurzfristig erlöst und unbarmherzig, weil er nach immer mehr verlangt und jedes Mehr vom Suchtmittel zerstörerisch wirkt.
Was also gibt es anderes, was das für den Süchtigen tun kann?
Was gibt es anderes, wenn nicht einmal die Liebe retten kann, was ich selbst schmerzhaft begreifen und akzeptieren musste.
Was also ist es, was das bieten kann, was das Suchtmittel kurzfristig immer wieder bietet?
Was ist es, was ersehnt wird?
Und was, wenn das erkannt wird, ist zu tun?
Entzug ist der erste Schritt. Aber Entzug bedeutet nicht Heilung. Mit dem Entzug ist das Suchtgedächtnis nicht überschrieben. Gehirnstrukturen veränderten sich nur durch neue Lernprozesse und neues Handeln.
Was hilft also um das Suchtgedächtnis zu überschreiben?
Vor diesen Fragen steht jeder Süchtige, der Krankheitseinsicht hat und seine Sucht stoppen will.
Und wenn er das erkannt wird, woher bekommt er es?
Woher bekommt er all das wonach er sich sehnt?
Wie etwas bekommen, was nie da war?
Wie etwas bekommen, was den Schmerz beendet oder zumindest aushaltbar macht?
Wie die Leere füllen, die da ist und noch größer ist als mit dem Suchtmittel, das sie ab und zu füllt?
Wie sich selbst lieben, wertschätzen, gut zu sich sein, wenn es nie gelernt wurde und nicht gefühlt wird? Ich weiß es nicht. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht.
Aber ich fühle, worum es im Kern geht: Die innere Leere füllen, nüchtern werden und den Schmerz annehmen und mit ihm leben lernen, ohne ihn betäuben zu müssen.

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