Mittwoch, 14. August 2024

Aus der Praxis: Wut hat zwei Pole

                                                            Malerei: A.Wende
 

Ich kenne Wut gut. Es gab Zeiten, da wusste ich vor lauter Wut nicht wohin mit mir. Ich spürte, das tut mir nicht gut. Ich spürte wie ich, immer wenn ich wütend bin, weit von mir selbst weg bin, weg von meiner inneren Mitte, in der ich geerdet bin, klar und ganz bei mir.

Wenn wir wütend sind ist das ein sehr inhaltsschwerer Ausdruck: Wir haben das Gefühl für unsere Kraft und unsere Macht verloren, wir erleben uns als klein, schwach und nichtig. Wir fühlen uns ohnmächtig. Um diese Ohnmacht nicht anerkennen und fühlen zu müssen werden wir wütend.
Um aus der Ohnmacht herauszufinden und handlungsfähig zu werden ist Wut also durchaus hilfreich.
Wut ist dann eine vorrübergehende Emotion. Heißt: Wenn Sie ihren Sinn erfüllt hat, darf sie gehen.
Nur meist geht sie nicht.
Wut hat die Eigenschaft sich wieder anzusammeln, wenn das unerfüllte Bedürfnis, das sie ausdrückt, nicht erfüllt wird oder Dinge, die uns verletzt haben, innerlich nicht gelöst werden können. Dann kann es zu einer dauerhaften inneren Wut kommen, und über diese Wut schrieb ich gestern.

Dauerhafte Wut reagiert unbewusst auf„feindselige” Reize, sprich sie ragiert auf jeden Trigger, der sie reizt. Die Klarheit geht flöten, Dinge und Umstände, Situationen, Worte, Inhalte und Fakten bis hin zur Realität des Moments, werden ausgeblendet. Etwas triggert die Wut und zack, wir springen drauf, meistens ohne das Bewusstsein worauf wir da gerade springen. Dazu lässt einen die Wut erst gar nicht kommen, sie schaltet den Denkapparat aus. Wir sind in der Emotion gefangen und blind für das, was eigentlich hinter der Wut liegt.

Die Wurzeln aller Wut sind Ohnmacht, Schmerz und Trauer.
Auch dauerhafte Frustration kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen. Wenn wir nicht bekommen was wir wollen, wenn wir uns ungerecht behandelt oder zurückgewiesen fühlen, wenn man uns verletzt hat, wenn wir uns selbst ablehnen – all das macht ohnmächtig. All das schmerzt. Und dann werden wir wütend.

Ohnmacht hat viele Gesichter. Alle sind unschön und bedrückend, also unterdrücken wir die Ohnmacht, sobald wir sie fühlen oder wir flüchten vor diesem schwer aushaltbaren Gefühl.  

Wir konsumieren vielleicht Dinge, die wir nicht brauchen, wir stopfen zu viel Essen in uns hinein, trinken zu viel Alkohol, kiffen, rauchen und all das wohl wissend, dass es unsere körperliche und seelische Gesundheit schädigt. Wir ruinieren unser Hirn, unser Herz und unsere Seele, um die unguten Gefühle, die hochkommen wollen, zu unterdrücken, um sie nicht fühlen zu müssen. Das gesamte Repertoire des Ausagierens unserer Abwehr in Form von suchtgleichen Handlungen steht unter dem unbewussten Motto: Bloß nicht wieder ohnmächtig sein!
Dann besser wütend.

Immer wenn wir uns ohnmächtig fühlen sind wir in Wahrheit „mächtig“ vor Wut. Und wir bleiben solange wütend, bis wir für uns selbst eintreten. Wenn das nicht anders gelingt, dann kann das auch mittels Wut geschehen.

Wut ist dann unheilsam wenn sie ein Dauerzustand wird. Traurigerweise kann man diesen wütenden Dauerzustand kollektiv gerade sehr spüren. Viele Menschen sind in einem permanenten aggressiven Erregungszustand. Sie deckeln andere unangenehme Gefühle mit ihrer Wut ab, anstatt sich mit der ganzen emotionalen Palette zu befassen, die zu diesem aggressiven Erregungszustand führt, der dann sobald der Trigger kommt, explodiert.

Wie oft kritisieren wir uns selbst für unsere Unfähigkeit Klartext zu reden, auszusprechen was wirklich ist, wie oft schämen wir uns vor uns selbst, dafür, dass wir nicht sagen, was wir wirklich denken, nicht tun, was wir wirklich wollen und ständig tun, was andere von uns wollen. Stattdessen kompensieren wir, lenken uns ab oder tun so, als sei alles in Ordnung.Wenn wir auf jemanden wütend sind, wenn wir auf eine Situation wütend sind, ist das ein Zeichen. Es zeigt auf uns selbst, es be"deutet": Wir lassen etwas zu, obwohl wir spüren - wir sollten uns wehren, wir sollten handeln und der eigenen Wahrheit eine kraftvolle Stimme geben. Wenn wir uns darüber aufregen, dass ein anderer uns nicht achtet, nicht ernst nimmt und uns verletzt, klagen wir im Grunde darüber, dass wir das selbst nicht tun, dass wir uns nicht genug achten, dass wir uns selbst nicht ernst nehmen, unsere Standards ignorieren und unsere Grenzen nicht schützen.

Wir alle haben als Kind auf mehr oder weniger massive Weise Ohnmacht erlebt und in vielen von uns steckt es noch, dieses Gefühl aus Kindertagen, in denen wir auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen ausgeliefert waren. Während der Entwicklung auf der emotionalen Ebene haben wir als Kind emotionale Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist groß, so groß, dass wir als Kind alles nehmen, was wir bekommen: Im besten Falle Liebe, Wärme und Geborgenheit, im schlimmsten Falle Unliebe, Kränkungen und Misshandlung. Letzteres sind traumtische Ohnmachtserfahrungen die uns ein Leben lang unbewusst beeinflussen. Ohnmacht, das ist der totale Kontrollverlust, die absolute Starre, die sich einbrennt in jeder Faser. Das greift tief und bleibt stecken, tief in der Seele, bis ins Erwachsenenleben. Wer massive Ohnmachtserfahrungen gemacht hat, will als Erwachsener in die Macht und er wird immer ein Thema mit Kontrolle haben. Je massiver der Kontrollverlust empfunden wurde, desto stärker ist die Angst die Kontrolle wieder zu verlieren, also kontrollieren wir - auch die Wut, die in der Ohnmacht steckt - und lassen sie nicht heraus. Wir kleben an einer alten unterdrückten Wut und die wabert mit bis wir Verantwortung für uns selbst und unsere Baustellen übernehmen um mit uns ins Reine zu kommen.

Es kann uns keiner wütend machen, wenn wir mit uns selbst im Reinen sind. Und dazu gehört eben auch die alten Ohnmachtserfahrungen und die Wut anzuschauen.
Solange wir uns selbst nicht die Wertschätzung, die Achtung und die Liebe geben, die wir so dringend brauchen, sind wir angreifbar. Wenn wir nicht selbst für uns handeln, handeln andere für uns. Wir werden zum Spielball, den andere hin und her werfen, anstatt den Ball selbst zu werfen. So wie als Kind. Wir erfahren im Außen das, was wir von uns selbst denken, denn so wie wir über uns denken, so werden wir uns fühlen, so verhalten wir uns. So wie wir über uns selbst denken, behandeln wir uns – und dann werden wir wütend, dass andere uns genauso behandeln.

Wenn wir unsagbar wütend sind, ist etwas „ungesagt".
Wir sagen nicht was wir denken, wir sagen nicht, was wir wollen und was wir fühlen. Wir ergreifen nicht die Macht der Worte um das Auszusprechen, was raus will. Wir erfahren keine Selbstwirksamkeit. Das macht wütend. Darum ist es heilsam unsere Wut zu erforschen, sie zu fühlen dürfen und sie auszudrücken, um an die wahren Gefühle und Bedürfnisse heranzukommen, die sich hinter der Wut verstecken. Nicht wenn die Wut wahllos ausagiert wird, sondern wenn die Wut gefühlt wird, nehmen wir uns selbst ernst und erst dann nehmen wahr, was wir versäumt haben für uns zu tun. Wir für uns, denn die, die uns ohnmächtig und wütend gemacht haben, werden nichts für uns tun, sei es, weil sie sich dessen nicht bewusst sind oder weil sie es einfach nicht können oder es nicht wollen. Und das macht oft noch wütender und noch ohnmächtiger. Der Wut einfach einmal freien Lauf zu lassen, kann sich für einen Augenblick richtig gut anfühlen, sie befreit vom Schmerz, als Dauerzustand tut sie nicht Gutes für uns.

Wut hat wie alles zwei Pole.
Wut ist eine starke Emotion, sie kann befreiend aber auch zerstörerisch sein.

Sie ist wichtig, wenn sie zum richtigen Moment rausgelassen wird, aber sie löst das Problem nicht. Sie setzt zum einen Energie frei und zum anderen bindet sie Energie. Wer ständig unterschwellig innerlich wütend ist, dessen Nervensystem ist im Daueralarm. Er ist eine tickende Zeitbombe, die jederzeit explodieren kann. Er neigt zu passiv-aggressivem Verhalten, sich selbst und anderen gegenüber.

Dauerhafte innere Wut ist in hohem Maße unheilsam.
Sie schadet niemals dem oder denen, auf die wir wütend sind, sondern uns selbst. Sie wirkt wie eine Abwärtsspirale.

Dauerhafte Wut hat die Eigenschaft Menschen zu zerfressen. Sie macht seelisch und körperlich krank. Selbst kurze Phasen von hohem psychischem Stress in Form von Wutanfällen hat nachhaltige Folgen für die körperliche Gesundheit. Muskeln spannen sich an, Blutgefäße verengen sich. Durch den erhöhten Blutdruck schaltet das Gehirn Außenreizen ab, dauerhaft hoher Blutdruck, Herzprobleme, Herzinfarkte, Schlaganfälle – der Mensch implodiert im Zweifel, kann er seine innere Wut nicht erlösen.

Wie gesagt Wut hat zwei Pole.
Es geht um die gesunde Balance, um den angemessenen Umgang mit diesem Gefühl.
Wut will und darf gefühlt werden. Sie darf raus.

Solange wir die Wut verleugnen oder unterdrücken, anstatt sie anzunehmen und ja zu ihr zu sagen, ihr zuzuhören was sie uns wirklich sagen will, riskieren wir, dass wir in der Ohnmacht festsitzen - wir sind blockiert für das, was fließen will - Energie, unsere Lebensenergie. Wut will gefühlt werden wie alle unsere anderen Gefühle auch – sie ruft uns auf in unsere Kraft zu kommen von der wir oft nicht einmal wissen, dass wir sie haben. Die Ohnmacht bindet Kraft. Ebenso wie Wut, wenn diese anhält.

Wut ist dann hilfreich und gesund, wenn wir sie angemessen und situativ rauslassen. Wenn wir sie im Griff haben und nicht sie uns. Wut ist hilfreich, wenn wir sie in die richtigen Bahnen leiten, wenn sie z.B. dazu führt, dass wir Grenzen setzen, für uns einstehen und aus der Opferrolle aussteigen. Wir suchen nach einer Lösung für das, was verändert werden will, wir fragen uns:
Warum halte ich an der Wut fest?
Und: Was kann ich für mich tun, damit ich diese Wut nicht mehr brauche?

Ja, sie darf sein, die Wut. Sie ist nichts Schlechtes, wenn wir bewusst in sie hineingehen für uns, in uns, sie zulassen und sie sie wandeln in die Energie, die uns wieder selbstmächtig macht. Aber wie gesagt, innere Wut als Dauerzustand heilt nicht, im Gegenteil - sie macht nachweisbar krank.

Angelika Wende
www.wende-praxis.de

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