Samstag, 16. November 2019

Dr. Jeckyll und Mr. Hyde

Zeichnung: Angelika Wende

Meiner Klientin geht es nicht gut. Sie leidet unter Schlafstörungen und Ängsten. Ihren Alltag hat sie nur noch unter großer Anstrengung im Griff. Sie fühlt sich müde und ausgebrannt. Ständig kreisen ihre Gedanken um ihre Beziehung mit einem Alkoholiker.
„Wenn er betrunken ist beschimpft er mich aufs Übelste und schreit mich an. Er nennt mich Hure, Schlampe und Schlimmeres. Er beschwert sich, dass ich gemein und unfair zu ihm bin und alles kaputt mache. Er sucht immer etwas, an dem ich Schuld sein könnte und macht mich nieder. Am nächsten Morgen ist er zerknirscht und entschuldigt er sich. Er sagt mir wie lieb er mich hat und das ich eine wunderbare Frau sei. Ich halte das nicht mehr aus. Ich will wirklich nur, dass er sich ändert. Ich würde gerne wissen, was in Ihm vorgeht?"

„Versuche immer, wenn du nüchtern bist, das zu sagen was du gesagt hast, als du betrunken warst. Das wird dich lehren, deinen Mund zu halten“, soll Ernest Hemingway einst gesagt haben. Ob das der alkoholkranke Schriftsteller immer beherzigt hat. Wir wissen es nicht.

Alkohol enthemmt. Manche Menschen verändern wenn sie getrunken haben ihr Wesen. Bei manchen ist diese Wesensveränderung weitaus dramatischer als bei anderen.
Alkohol kann positive Gefühle freisetzen, aber auch negative. 
Alkohol wirkt auf jedes Gehirn anders. Manche macht lustig, andere depressiv, manche aggressiv und streitlustig. Manche spielen im Verlauf des Rausches hemmungslos alle emotionalen Klaviaturen durch, die die Psyche hergibt. Diese Menschen machen sich keine Gedanken über ihr betrunkenes Verhalten und die Konsequenzen, die es hat. Sie sprechen im Rausch die abscheulichsten Dinge aus. Worte, die ihnen im nüchternen Zustand niemals über die Lippen kommen würden. Sie sind verbal aggressiv, sie attackieren, beleidigen und demütigen ihr Gegenüber auf übelste Weise. Manche werden gewalttätig. Meistens trifft es ihnen nahestehende Menschen. Oft ist es der Partner, der zum Mülleimer für allen Frust und zum Fußabtreter für alle destruktiven Gefühle wird.
 
Man sagt: Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Zumindest sagen sie ihre Wahrheit.
Aggressive Betrunkene sind absolut hemmungslos. Sie sagen in ihrer Suff-Wut was ihnen gerade in den Sinn kommt und sprechen es unzensiert aus. Sie reißen dumme Witze über den anderen, machen sich über ihn lustig oder führen ihn vor.
 
Im fortschreitenden Rausch verwandeln sich ihr Wesen von einem Dr. Jeckyll in die dunkle Seite des Arztes: In den bösartigen Mister Hyde. Dieser Sauf-Typus verändere sich dramatisch. Er wird  unvorsichtig, feindselig, aufbrausend oder weinerlich. Er kann Grenzen nicht mehr einschätzen und verletzt andere ohne Rücksicht auf deren Gefühle.
Nüchtern folgt die Reue. 
Wie meine Klientin es schildert: "Er ist zerknirscht, sagt er meint es nicht so", er entschuldigt sich. Das ändert aber nichts. 
Es macht etwas mit dem Betroffenen. Er wird verunsichert. Er fragt sich: Ist das, was er im Suff ausgesprochen hat, was er in Wahrheit denkt und fühlt? Verdrängt er all das, was er dann rauslässt, sonst im Alltag? Ist er dieser beleidigende, bösartige, Gift spuckende Mr. Hyde sein wahres Wesen, das er sonst gut verbirgt?
 
Fakt ist: Alkohol löst kein Verhalten aus, das nicht schon im Menschen angelegt ist. Er verstärkt es.
Aggressive Betrunkene sind mit sich selbst und ihrem Leben chronisch unzufrieden. Im Tiefsten wertschätzen sie sich selbst nicht. Sie verachten sich vielleicht sogar. In jedem Falle aber haben sie eine große Wut in sich aufgestaut, die sie im nüchternen Zustand kontrollieren können und die dann, wenn sie enthemmt sind, wie ein Vulkan ausbricht. Die verdrängten destruktiven Emotionen sind unter Alkoholeinfluss nicht mehr zu beherrschen.

Zu viel Alkohol tut keinem gut. Und – er tut keiner Beziehung gut. Er ist der Beziehungskiller Nummer eins.
Es geht ja nicht nur um einen Moment in der Zeit in dem all die verletzenden Dinge gesagt oder getan werden, die der Betrunkene selbst vielleicht am nächsten Tag, dank Blackout, längst vergessen hat. Es geht um all die Momente, die sich Rausch für Rausch wiederholen – schmerzhafte Momente, die jener, der verletzt wurde, nicht vergessen kann. 

Kein Mensch vergisst Demütigungen und Beleidigungen. Verletzende Worte treffen – mitten in die Seele. Das wirkt auf das Selbstwertgefühl und es wirkt auf die Beziehung wie ein zersetzendes Gift.  
Dieses Gift wirkt gründlich und nachhaltig in der Seele des Attackierten. Er verliert das Vertrauen in sich selbst, weil er das mit sich machen lässt. Er verliert das Vertrauen in den anderen und in die Sinnhaftigkeit der Beziehung. Auch wenn sich der Trinker am nächsten Tag entschuldigt und Reue zeigt: Das Gesagte lässt sich aus Kopf und Herz nicht mehr löschen. So wie der Zweifel sich nicht löschen lässt. 

Wo gegenseitige Wertschätzung, Zuneigung, Liebe und Vertrauen sein sollten, sind Geringschätzung, Ablehnung, Wut und Misstrauen der Boden der Beziehung. Dieser Boden ist verdorben.
Ich frage meine Klienten: Was bringt ihnen nun dieses Wissen?
Wird sich dadurch etwas ändern?
Wird er sich dadurch ändern?
Ich sage: Es gibt da zwei Personen. Sie könnten ihn fragen, was kann er ändern kann und will.
Aber die entscheidende Frage ist: Was können sie für sich ändern, falls auf der anderen Seite keine Bereitschaft ist?
 
Sie weint, sagt, sie muss darüber nachdenken.



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