Mittwoch, 7. Oktober 2015

Eine Utopie




Am Anfang hatte ich oft „Ich liebe dich“, gesagt, immer wieder hatte ich es gesagt, jeden Tag hatte ich es zu ihr gesagt, ein paar Mal. Ich wurde nicht müde, es zu sagen. Dann, eines Tages, ich weiß noch, wir gingen am Rhein spazieren, in Gummistiefeln am Uferstreifen entlang, es regnete, aber Anna hatte unbedingt Enten füttern gehen wollen, wir standen nebeneinander im matschigen Lehm, zupften kleine Stücke aus den Brötchen vom Vortag, blödelten herum und spornten uns gegenseitig an wer mundgerechtere für die Entenschnäbel werfen konnte, sagte Anna plötzlich: Es ermüdet mich, dein ewiges „Ich liebe dich“. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mir fehlten die Worte. Ich blickte auf das trübe, grünliche Wasser. Ich wusste, dass ich es oft sagte und ich fragte mich, ob ich es so oft sagte, um Anna meiner Liebe zu versichern oder mich selbst der meinen. Sie fasste mich am Arm. Es war ein Griff, dem ich mich nicht entziehen konnte, er hatte etwas Feindliches. „Sprachwort Liebe“, fuhr sie mich an, und dass sie es schon zu oft gehört hatte, von anderen, die da gewesen waren und gegangen und dass Liebe kein Sprachwort sei, sondern ein ohne Worte auskommendes still Gefühltes, im besten Falle ein Tunwort.
 
Sie war wütend. "Paul, du weißt es, ich misstraue dem Wort Liebe. Am Ende folgt immer das Wort Kummer. Er hat mich zurückgelassen, immer wieder, lieblos. Liebe ist eine Utopie, die zwei Menschen teilen um dem Wirklichkeitsraum zu entkommen, in einen besseren Raum. Das gelingt niemals und wenn, dann allenfalls eine Weile. Sie muss scheitern die Utopie von Liebe, wie jede Utopie scheitert, sie scheitert an der Wirklichkeit, zu der sie dann wird." Ich versuchte mich zu rechtfertigen, versuchte ihr klar zu machen, dass es aus mir heraus müsse, das Wort, weil es wahr sei, dass ich sie liebe und dass ich nicht wie die anderen sei und schon gar nicht die Absicht hätte ihr Kummer zu bereiten. Anna holte tief Luft, sah mich an und sagte: "Ich bitte dich, sag es einfach nicht mehr, Paul. Das Wort Liebe, so inflationär wie du es benutzt, verliert an Bedeutung". Ich sagte es nicht mehr und ich ging seit diesem Tag auch nicht mehr mit Anna Enten füttern. Aber nach einer Weile des Durchhaltens, was mir schwer fiel, so schwer wie das unausgesprochene Wort, das auf meiner Zunge lag während der ganzen Zeit des Durchhaltens, sagte ich es wieder. Anna meinte, ich sollte mir endlich etwas suchen, was mich von Innen hält und zwar keinen Menschen und schon gar nicht sie. Etwas hat uns eingeholt, ja, es war wohl die Wirklichkeit. Heute weiß ich, Anna hatte Recht.


















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