Dienstag, 23. September 2025

Manches schlägt so tiefe Wunden, dass nicht einmal die Zeit sie heilt

 



Der Spruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ wird oft als Trostpflaster in schwierigen Zeiten verwendet.
Aber ist das wahr?
Manches schlägt so tiefe Wunden in die Seele, dass nicht einmal die Zeit sie heilt. Tatsächlich ist es so, dass die Zeit allein nicht alle Schmerzen, Traumata und Trauer heilen kann. Emotionale und psychologische Wunden können tiefgreifender sein, als wir glauben. Jeder von uns geht auf seine Weise mit Verletzung, Verlust und Leid um. Während einige in der Lage sind, ihre Wunden zu verarbeiten, kämpfen andere ein Leben lang mit den Folgen.
 
Traumatische Erlebnisse, der Verlust eines geliebten Menschen, Verrat, schwere Kränkungen oder Enttäuschungen sind seelenzersetzende Erfahrungen, die so stark sein können, dass sie uns ein Leben lang begleiten und auch nach Jahren noch, oder immer wieder, schmerzhaft sind
Diese emotionalen Verwundungen lassen sich nicht einfach durch das Verstreichen der Zeit heilen. Und auch wenn manche Menschen behaupten, sie hätten ihren Schmerz überwunden und die Wunde geheilt, ist das nicht immer wahr, denn nicht selten kommt es vor, dass Menschen versuchen, schmerzhafte Erinnerungen zu verdrängen oder abzuspalten. Beides führt jedoch dazu, dass der Schmerz unbewusst weiterlebt und sich beispielsweise in Form von Ängsten, Zwängen, Sucht, Depressionen, psychosomatischen Symptomen oder körperlichen Erkrankungen manifestiert.
Vor allem Traumata können tiefgreifende Auswirkungen auf unser Leben haben und oft heilen sie nicht vollständig. Während einige Menschen in der Lage sind, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und sie zu integrieren, schaffen es andere nicht.
Die Gründe sind vielfältig und hoch komplex. 
 
Zunächst einmal spielen Art und der Schweregrad des Traumas eine entscheidende Rolle. Traumatische Erlebnisse wie Missbrauch, Krieg, Naturkatastrophen, schwere Unfälle oder Bindungstraumata, hinterlassen oft tiefe emotionale Narben. Auch komplexe Traumata durch sich wiederholende oder langfristige traumatische Erlebnisse, die oft in der Kindheit beginnen und eine tiefgreifende Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung zur Folge haben, sind besonders herausfordernd. Je schwerer das Trauma, desto schwieriger ist die Verarbeitung. Jede Art von Trauma führt zu intensiven emotionalen, geistigen und körperlichen Reaktionen. Besonders auch dann, wenn ein Mensch unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis nicht die nötige Unterstützung erhält, kann dies die Heilung zusätzlich erschweren.
 
Ein wichtiger Aspekt bei der Verarbeitung unserer Wunden ist die persönliche Resilienz.
Resilienz variiert von Mensch zu Mensch. Menschen mit hoher Resilienz sind oft in der Lage, Traumata besser zu bewältigen. Hingegen haben Menschen mit geringerer Resilienz Schwierigkeiten, belastende Erfahrungen zu verarbeiten. Zudem spielt die Art und Weise, wie ein Mensch zuvor mit emotionalem Stress umgegangen ist, eine Rolle. Menschen, die ein gewisses Urvertrauen haben und schon als Kind gesunde Bewältigungsmechanismen entwickeln konnten, können in der Regel besser mit traumatischen Erlebnissen umgehen. Im Gegensatz dazu können ungesunde Bewältigungsmechanismen, wie etwa die Neigung Gefühle zu verdrängen oder abzuspalten, Heilung erheblich behindern.
 
Auch Spiritualität hilft bei der Traumaverarbeitung.
Unser Glaube an etwas, das größer ist als wir, schenkt Trost, Hoffnung und Sinnstiftung, was das Gefühl von emotionaler Entlastung und Vertrauen in das Leben wiederherstellen kann. Man weiß, dass Menschen, die an etwas Höheres glauben, es leichter haben ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden und Heilung zu erfahren. Die Überzeugung, dass das Leben auch in schweren Zeiten und angesichts von Schicksalsschlägen einen tieferen Sinn hat, ist hilfreich um Traumata zu bewältigen, sie zu integrieren und so daran zu wachsen. 
 
Soziale Unterstützung ist ein weiterer Faktor.
Sie ist von hoher Relevanz für Heilungsprozesse. Wenn wir in schweren Zeiten keine Unterstützung von Freunden oder der Familie erhalten, führt dies oft zu einem inneren Rückzug, bis hin zur sozialen Isolation, was eine Genesung erheblich beeinträchtigt. Emotionaler Rückhalt, liebevolle Unterstützung und das Verständnis naher Menschen sollte nicht unterschätzt werden, wenn es darum geht traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Fehlt diese Unterstützung, kann die emotionale Isolation den Schmerz vertiefen und die Wunde weiter aufreißen.
Leider gibt es in vielen Kulturen noch immer eine Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen und Traumata, die es Betroffenen erschwert, über ihre Gefühle zu sprechen oder sich professionelle Hilfe zu suchen. Diese Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene schweigen, alles mit sich selbst auszumachen versuchen und in ihrem Schmerz gefangen bleiben.
 
Auch Trauer wird oft stigmatisiert oder als Schwäche wahrgenommen.
„Wie, Du bist immer noch nicht drüber hinweg?“
Diesen Spruch müssen sich viele Trauernde anhören.
Ein Spruch, den ich übrigens nicht hören kann, weil er von einer selbstgerechten Ignoranz spricht, bei der es mir kalt über den Rücken läuft. Ignoranz führt dazu, dass Trauernde sich nicht ernst genommen fühlen, was eine Bewältigung zusätzlich erschwert. Menschen, die um einen Verlust trauern, fühlen sich nicht zuletzt aufgrund solcher Sprüche unter Druck, ihre Gefühle zu verbergen oder sie schnell zu überwinden, weil „man“ das von ihnen erwartet. Dieser Druck durch gesellschaftliche Erwartungen führt dazu, dass Trauernde sich verlassen, alleinund einsam fühlen, sich schuldig fühlen, sich sogar schämen, weil sie es nicht schaffen ihren Schmerz zu überwinden. Er führt dazu, dass sie ihre Emotionen unterdrücken, was absolut kontraproduktiv ist. Ein weiteres Problem ist das mangelnde Verständnis für die verschiedenen Phasen, Formen und Facetten der Trauer. Jede Stigmatisierung von Trauer und Schmerz hindert Menschen daran ihre Gefühle offen zu zeigen oder sich Hilfe zu suchen. Stigmatisierung kann dazu führen, dass sie in ihrem Schmerz gefangen bleiben, anstatt Möglichkeiten zur Genesung zu ergreifen.
 
Was ich in all den Jahren meiner Arbeit mit Menschen gelernt habe und selbst erfahre: Trauer hat keinen festgelegten Zeitrahmen. 
Die Trauer hat uns und nicht wir haben die Trauer. 
Stichwort: Demut.
Trauerarbeit ist ein Prozess und wie der Begriff schon sagt: Arbeit. Trauerarbeit lässt sich nicht beschleunigen. Jeder von uns braucht seine Zeit und jeder von uns hat seine eigene Gangart um damit fertig zu werden. 
 
Der Zugang zu professioneller Hilfe ist entscheidend für die Heilung unserer Wunden.
Viele Menschen brauchen therapeutische Unterstützung, um die emotionalen, psychologischen und körperlichen Folgen eines Traumas zu bewältigen. Fehlt dieser Zugang, behindert das die Heilung. Jedoch, nicht alle Therapieformen sind bei jedem Menschen gleich wirksam. Manche sprechen besser auf bestimmte Therapieansätze an, während andere möglicherweise nicht die gewünschte Hilfe finden. Der Heilungsprozess, egal bei welcher Therapieform, hängt immer stark von der Passung zwischen Helfer und Klient ab. Darum - wenn etwas nicht funktioniert hat, es macht immer Sinn weiter zu suchen. Unsere Wunden zu heilen oder mit unseren Wunden zu leben, wenn sie nicht heilen, ist eine Herausforderung. Durch Akzeptanz, die Entwicklung gesunder Bewältigungsmechanismen, soziale Unterstützung, professionelle Hilfe und die Praxis von Selbstfürsorge und Achtsamkeit, können wir lernen so damit umzugehen, dass sie nicht unser Leben dominieren. Wir können lernen mit den Folgen unserer Wunden, unserer Traumata und unserer Trauer besser umzugehen, auch wenn sie nicht heilen und trotzdem ein erfülltes und sinnvolles Leben gestalten und leben.
Wir dürfen lernen zu akzeptieren: Manches schlägt so tiefe Wunden, dass nicht einmal die Zeit sie heilt. Das ist traurig, und auch daran erkenne ich meine Begrenztheit als Mensch.
 
 
Angelika Wende
Kontakt: aw@wende-praxis.de

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