Montag, 25. Januar 2021

Aus der Praxis - Emotionale Abhängigkeit

 

                                                                Zeichnung. A. Wende

 

Wer emotional abhängig ist hängt wie eine Klette am Partner. Er braucht das Gefühl der Symbiose um sich lebendig zu fühlen und um sich selbst zu spüren. Der andere beherrscht sein ganzes Sein im Denken und Fühlen  - er ist der Mittelpunkt des Lebens.

Die abhängige, auch dependente Persönlichkeit genannt, hat ein geringes Selbstbewusstsein, wenig Durchsetzungsvermögen und damit einhergehend wenig Eigeninitiative. Viele Dependente leben in einer depressiven Grundstimmung, beladen von Gefühlen der Schwäche, der Wert- und Hilflosigkeit. Anderen gegenüber geben sie sich passiv, sind unterwürfig und anhänglich. Die Verantwortung für wichtige Bereiche des eigenen Lebens wird nicht selbst übernommen, sondern abgegeben. Ihre Meinung äußern sie oft nicht, aus Angst verlassen zu werden, ebensowenig wie sie die eigenen Bedürfnisse wahrnehmen, sondern sie - ausgerichtet auf die Bedürfnisse der anderen - verdrängen und unterordnen. Alleinsein fällt diesen Menschen schwer, denn unbewusst haben sie die Überzeugung verinnerlicht: Ich kann nicht für mich selbst sorgen. Ihre größte Angst ist es verlassen zu werden und auf sich selbst angewiesen zu sein. Andererseits löst das Gefühl des Verlassenseins wiederum diese existentiell bedrohliche Angst aus. 

 

Das Grundthema der dependenten Persönlichkeit besteht darin, dass die Ambiguitätstoleranz - ein steuerndes Regulativ der Aufnahme-, Verarbeitungs- und Speicherungsprozesse von Informationen in widersprüchlichen Situationen, um logische Bewältigungsformen von Widersprüchen situationsadäquat einzusetzen - schwach oder gar nicht ausgebildet ist.

Daher kopieren diese Menschen nicht selten den Willen anderer und setzen ihn an die Stelle, wo der eigene Wille gefragt ist. Es geht also nicht, wie man denken könnte, um eine emotionale Bindung zu einem anderen Menschen, sondern im Grunde um die Hinwendung zu einem Objekt, das als Mittel zur Meinungsfindung und Selbstkonstitution gebraucht wird. Eine emotionale Bindung reicht bei diesen Menschen über die einer kindlichen Abhängigkeit nicht hinaus.

 

Abhängigkeit von einem anderen Menschen führt in extremen Fällen dazu, dem anderen ausgeliefert zu sein. 

Oft geht sie mit einem Gefühl ständiger innerer Unruhe, chronischer Unsicherheit, Ängsten und depressiven Stimmungen einher. Besonders dann, wenn sich der Partner entzieht. Bei sich selbst zu sein gelingt dependenden Persönlichkeiten nur schwer oder gar nicht. Meist ist es ihnen gar nicht bewusst, dass sie emotional abhängig ist – sie halten es für die große Liebe.

 

Die Symptome der Abhängigkeit sind sehr unterschiedlich und zeigen sich auf vielerlei Ebenen. 

Ein Beispiel: Der Abhängige will vom Partner bedingungslos geliebt und wertgeschätzt werden und tut dafür alles, bis hin zur Selbstaufgabe. Eine weiteres Beispiel: Der Abhängige braucht die permanente Verfügbarkeit oder Nähe des Partners, er tut alles um die Verbindung aufrecht zu erhalten. Nach dem Motto: „Hold the line“ muss er sich ständig vergewissern, was der andere tut, wo er ist und dass er für ihn erreichbar ist. Das ganze Denken ist auf den Partner ausgerichtet. Wenn dieser einmal nicht erreichbar ist, und sei es nur gefühlt, überfällt den Abhängigen unangemessene Verlustangst.  Mit Drohungen, Lügen und emotionaler Erpressung wird versucht den anderen  an sich zu binden, sobald dieser sich zurückzieht.

 

Emotional Abhängige brauchen den Partner als Objekt zur Auffüllung des eigenen Mangels an emotionaler Autonomie. Allen Abhängigen ist eins gemeinsam: Sie sind abhängig von einer ungesunden Vorstellung von Liebe. Abhängigkeit in Beziehungen schwelt oft lange Zeit im Verborgenen, bevor es zu Dauerkonflikten und schließlich zur Eskalation kommt, die die Beziehung endgültig zerstören kann.

 

Warum werden Menschen abhängig von anderen?

Das Urmuster beginnt fast immer in der Kindheit. Kinder sind von den Menschen, die sie versorgen, existentiell abhängig. Wenn es in dieser Ur-Beziehung an Liebe, Halt und emotionaler Zuwendung mangelt, versucht das Kind dieses Defizit an Zuneigung irgendwie auszugleichen. Sexueller und/oder emotionaler Missbrauch erhöht dieses Zuwendungsdefizit weiter. Wird das Zuwendungsdefizit nicht ausgeglichen, bzw. fehlt dieser Ausgleich ganz, sucht auch das erwachsen gewordene Kind weiter nach diesem ehemals misslungenen Ausgleich.

Emotionaler Abhängigkeit liegt in den meisten Fällen eine traumatische Erfahrung im Kindesalter zugrunde, also eine Situation, in der sich das Kind an etwas anpassen musste, dem es emotional nicht gewachsen war. 

Oft ist es eine Form der anhaltenden Kränkung, die das Kind durch Abspaltung als Form der Ich-Abwehr zu bewältigen versuchte. Abhängige sprechen daher oft von einem Gefühl des Abdriftens in emotional belastenden Situationen.

Menschen, die derart leidvolle Erfahrungen machen mussten, suchen sich später in einer Art Wiederholungszwang unbewusst einen Partner, der sie diesen früh erlebten Mangel wieder fühlen lässt, in der Hoffnung: Dieses Mal wird alles gut, wenn ich mich nur genug anstrenge.

 

Unbewusstes erkennt Unbewusstes.

Zu einer Beziehung gehören immer zwei. Der Partner, der sich als Versorger zum Ausgleich der unbewussten Zuwendungsdefizite zur Verfügung stellt war in vielen Fällen als Kind selbst emotional unterversorgt. Er gibt die schmerzlich vermisste Fürsorge später dem Partner. 

Damit treffen zwei Bedürftige aufeinander. Einer der versorgt werden will und einer, der (ver)sorgen will.

So entsteht eine unheilsame Beziehungskonstellation, denn keiner von Beiden kann die kindlichen Bedürfnisse des Partners erfüllen, weil er ja selbst bedürftig und emotional unerfüllt ist. Beide bleiben dort stecken, wo sie schon als Kind steckten, in der emotionalen Unterversorgung, in der Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe.

 

Jede Art von Abhängigkeit führt zu Leiden und schließlich zur Fragmentierung eines falschen Selbst, das seit jeher keine Kontur und keine innere Stabilität hat.

Im Halt suchen beim anderen verliert sich der Haltsuchende im anderen und wird im Zweifel hörig. In seinem Gefühlsleben lebt auf, was er als Kind so schmerzlich empfunden hat: Die Unerreichbarkeit der Bezugsperson, die damals die für das Kind lebensnotwendige Beziehung nicht herstellen konnte. 

Emotional Abhängige leben dieses ungesunde Beziehungsmuster in den verschiedensten Variablen ein Leben lang, ohne sich dessen jemals bewusst zu sein. Verzweifelt versuchen sie anzukommen im Paradies symbiotischer Liebe, aus dem die Eltern sie verstoßen haben oder niemals hineinließen. Durchdrungen vom bedrohlichen Gefühl ohne Zuwendung vom Leben abgeschnitten zu sein, haben sie nur wenig Bezug zur eigenen Lebendigkeit. Sie spüren ihre wahren Bedürfnisse nur schemenhaft und sind emotional blockiert. Sie misstrauen sich selbst und damit auch dem anderen, am meisten aber misstrauen sie dem, was ihnen als Kind gefehlt hat, der Liebe.  Zu reifer Liebe sind sie nicht fähig, weil sie diese nie gefühlt haben. Das einzige was sie kennen ist in der Tat Abhängigkeit von anderen, etwas, die sie für Liebe halten.

 

Emotionale Abhängigkeit ist eine Entwicklungsaufgabe des Selbst.

Unternimmt der Abhängige nichts gegen die Ursachen seines neurotischen Musters wird jede Beziehung, die er eingeht in irgendeiner Form einen abhängigen Charakter haben. Er darf lernen (und das geht nicht ohne eine Therapie), ein gesundes Selbst zu formieren.

Hilfreiche Therapieansätze sind das ressourcenorientierte Vorgehen als auch die Arbeit mit dem Inneren Kind. Das verlassene Innere Kind darf lernen, dass es alleine lebensfähig ist. Es darf lernen, seine Verlassenheitsgefühle auszuhalten, sich selbst eine hinreichend gute Mutter und ein hinreichend guter Vater zu sein, um seine Abhängigkeit von anderen Menschen auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Wer lernt sich selbst und sein inneres Kind gut zu versorgen, muss das Zuwendungsdefizit nicht mehr von anderen einfordern und ausgleichen lassen und findet so mit der Zeit zu echtem Selbstwertgefühl. Um eine gelingende Beziehung zu führen, muss er schließlich akzeptieren, dass kein Mensch ihm jemals das geben kann, was ihm die Eltern damals nicht geben konnten. Er muss Abschied von den Eltern nehmen.

Und lernen sich selbst zu geben was er braucht.  

Dann findet die neurotische Spirale der Abhängigkeit ein Ende.

 

Abhängigkeit von Menschen ist eine Sucht, es ist die SEHNSucht gebraucht und geliebt zu werden.

Und das Suchtmittel sind andere Menschen.

Das ist die entscheidende Wahrheit, die der Abhängige für sich selbst anerkennen darf.

Es geht um Heilung von innen nach außen.

Und dieser Weg beginnt im Erkennen, dass er sich erst einmal selbst braucht und liebevoll annehmen darf. 

 



 

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