Sonntag, 8. Juni 2014

Aus der Praxis - Vom Umgang mit dem Scheitern



Scheitern, ein unschönes Wort, das keiner gern hört und schon gar nicht gern als Erfahrung auf sein Lebenskonto verbuchen möchte, geht auf das Wort Scheiter, eine Pluralform zu Scheit zurück. Im 16. Jahrhundert existierten zunächst die Verben zuscheitern und zerscheitern, deren Bedeutung ‚in Stücke brechen‘ war. Die verkürzte Form entstand dann vermutlich in Anlehnung an Wendungen wie zu Scheitern gehen ‚in Trümmer zerbrechen, so zu lesen in Wikipedia. 

In Trümmer zerbrechen. Genauso fühlt sich Scheitern an, als würde alles über einem zusammenbrechen. Man steht vor einem Trümmerhaufen und erlebt Gefühle wie Ohnmacht und Verzweiflung. Beides Affekte, die uns an den Rand des Ertragbaren bringen können. Scheitern ist eine menschliche Grenzerfahrung. Wer scheitert stößt an seine Grenzen, er erfährt seine eigene Begrenztheit.

Die Möglichkeit zu scheitern steckt in jedem Leben und die meisten von uns haben es auf die ein oder andere Weise schon erlebt, manche sogar mehrmals.

Mein eigener Lebenslauf ist voll davon. Ich bin so oft gescheitert, dass ich die Vermutung habe, ich mache das unbewusst um wieder von vorne anfangen zu können. Ich bin Widder und diesem Sternzeichen sagt man nach, dass es den Aufbruch liebt und dem folgt sinngemäß erst einmal ein Abbruch, respektive Zusammenbruch.

Wenn wir scheitern, scheitern wir an etwas. Vielleicht haben wir dazu beigetragen, vielleicht ist es einfach passiert, weil die Umstände nicht für uns waren, weil wir eine Lektion nicht begriffen haben oder eine Lektion lernen mussten, oder weil das, was größer ist als wir, regulierend eingegriffen hat um etwas zu beenden, was in unserem Leben keinen Platz mehr hat.

Was auch immer es ist, was das Scheitern bewirkt hat, Scheitern ist das Gegenteil von Erfolg, es ist Misserfolg, ein Ausdruck dessen, dass etwas zerbrochen ist, was uns etwas bedeutet hat.

Scheitern tut weh. Es fühlt sich an wie der freie Fall aus der Höhe in die Tiefe oder wie das langsame Abrutschen an einer spiegelglatten Wand. Da ist kein Halt mehr und du kannst nur noch beten, dass der Aufprall relativ sanft vor sich geht. Aber meistens ist es anders, es gibt einen ziemlich harten Plumps. Und danach ist nichts mehr wie vorher.

Menschen scheitern, an Herausforderungen, an Aufgaben, an Prüfungen, an Lebenskonstrukten, an Beziehungen, an Fehlplanungen, an Idealen, an Illusionen, an Visionen, an Sehnsüchten, an Träumen, an Hochmut, an Gier, an Trägheit, an Übermut, an Nichtwissen, an sich selbst, aneinander und an anderen.

Misserfolge, ob privat oder beruflich können uns leicht aus der Bahn werfen.

Besonders in einer Leistungsgesellschaft in der Menschen an Erfolg gemessen und für Niederlagen verurteilt werden, ist Scheitern ein No Go. In kaum einem anderen Land der Welt werden Misserfolge so sehr geächtet wie bei uns in Deutschland und in kaum einem anderen Land zählen Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, Selbstoptimierung und Erfolg so viel wie bei uns. Krisen, Leid, Trauer, Unglück und Schmerz sind Erfahrungen die es bitte nicht zu geben hat und wenn es sie gibt, schnell wieder vorbei sein müssen.

In Krisenzeiten wächst die Zahl derer, die scheitern.

Immer mehr Menschen verlieren ihren sicher geglaubten Job, Schüler und Studenten fallen wegen des extremem Leistungsdrucks durch Prüfungen, Selbstständige und Freiberufler sind den Anforderungen des Marktes nicht gewachsen, Jobsuchende über fünfundvierzig scheitern am Alter, Ehen scheitern, Beziehungen und Familien scheitern, die Beispiele sind endlos. Kein Wunder das die Buchhandlungen immer voller werden mit Ratgebern zum Scheitern und dem sinnvollen Umgang mit Krisen. Das ist ein Geschäft, das Erfolg verspricht.

Niemand schätzt Situationen, in denen die Dinge schiefgehen und man auf die Nase fällt. Niemand trifft gern eine falsche Entscheidung, niemand gibt gerne zu an einer Aufgabe gescheitert zu sein oder gar ein ganzes Lebenskonzept in den Sand gesetzt zu haben. Ein Ziel nicht zu erreichen oder etwas zu verlieren ist schmerzhaft. Aber diese Erfahrungen sind unausweichlich, sie gehören zum Leben.

"Gerade in individualistisch orientierten Gesellschaften stellt Scheitern eine Bedrohung des Selbstwertes dar. Je mehr Leistung zum Kriterium für die soziale Rolle und das Selbstbild wird, desto gravierender ist ein Versagen." sagt der Psychologe und Fehlerforscher Olaf Morgenroth von der Hamburg Medical School. Ob und wann ein Mensch sich als gescheitert sieht, hängt also auch von den Maximen und Normen der Gesellschaft ab, in der lebt.
Wer mag schon Versager, in einer Welt, in der es kaum Fehlertoleranz gibt, in der die Welt den Glücklichen gehört und die Unglücklichen sich verstecken sollen, damit man sich an ihrem Unglück nicht ansteckt?

Aber Ignoranz hilft denen, die sich sicher glauben, nicht viel. Mit der wachsenden Komplexität der Arbeitswelt und den steigenden Anforderungen an jeden von uns nimmt auf dem Arbeitsmarktsektor die Gefahr zu scheitern drastisch zu. Der Topmanager von heute ist schnell der Langzeitarbeitslose von Morgen. Dazu kommt, wer einen Job will muss räumlich flexibel sein, das reißt Familien und Beziehungen auseinander. Das sind enorme Anforderungen und Belastungen in denen jede Menge Zündstoff für Probleme und Konflikte liegt unter denen alle leiden, die Geld verdienen müssen, eine Familie haben und beides vereinbaren müssen.
Die Zahl der Ehescheidungen steigt, die Zahl der Alleinerziehenden zwangsläufig mit, die Zahl der Singlehaushalte liegt bei vierzig Prozent, in Deutschland lebt jeder fünfte allein. Nach den Alleinerziehenden sind Single-Haushalte diejenigen mit der höchsten Armutsgefährdungsquote.

Bundesweit nehmen die psychischen Erkrankungen zu. Depressionen sind laut der Techniker Krankenkasse bereits auf Platz drei der Erkrankungen, die alljährlich für die meisten Fehltage sorgen. Berufsunfähigkeit droht, die Selbstmordrate steigt. Persönliche Krisen führen Menschen an den Rand der Verzweiflung. So mancher kann den Verlust seiner Arbeit oder ein persönliches Versagen nicht überwinden.

Diese Zahlen sprechen für sich und sie sprechen davon, wie schwer es in heutigen Zeiten ist die Arbeit zu behalten und Beziehungen zu leben. Da scheitert eine soziale Lebensform des Miteinanders von Menschen und zwar drastisch – und woran?

Am Leistungsdruck, der Menschen derart überfordert, dass sie keine Kraft mehr haben für ein Miteinander oder an den hohen Erwartungen, die man uns eintrichtert und den überzogenen Vorstellungen davon wie das optimale Leben zu sein hat – erfolgreich nämlich und möglichst problemlos. Lebe, liebe, lache und zum Weinen geh in den Keller, denn wie es da drinnen aussieht geht niemand was an. Oder doch?

Wir brauchen ein neues Bewusstsein für menschliche Schwächen. Wir brauchen die Einsicht, dass das Leben und der Mensch nicht perfekt sind und dass diese Erwartung nicht nur unrealistisch ist, sondern überheblich und pardon, auch ziemlich dumm. Fehlbarkeit ist menschlich und scheitern ebenso.

Was wir dringend brauchen ist eine neue Einstellung was unsere menschlichen Schwächen angeht. "Die Sicht der Gesellschaft auf das Verhältnis von Erfolg und Scheitern ist dermaßen verklärt, dass es uns schon gefährlich werden kann", sagt der Philosoph Hans-Jürgen Stöhr von der Agentur für gescheites Scheitern in Rostock. "Nur die wenigsten machen sich bewusst, dass Scheitern die Quelle künftigen Erfolges ist und Erfolg in sich stets den Keim des Scheiterns birgt".

Also wie mit dem Scheitern umgehen? Den Fehlschlag akzeptieren, loslassen und Neues wagen?

Das macht Sinn, aber zunächst einmal sollten wir die allgemeine Sicht auf das Scheitern reflektieren und sie radikal relativieren. Wir dürfen scheitern, wir dürfen Fehler machen, wir dürfen diese und jede andere Art der negativen Grenzerfahrung machen, denn bei allem Schmerzhaften, was sie mit sich bringt, ist sie eine Erkenntnis, nämlich die, dass wir keine perfekten Roboter sind, deren Programm nicht ausfallen kann, dass wir mit jedem Scheitern auch unsere Persönlichkeit neu entdecken und an jedem Zusammenbruch wachsen können, wenn wir ihn akzeptieren als das, was er ist: Ein Punkt um das Leben neu zu überdenken.
Wenn das Leben aus den Fugen gerät ist das schmerzhaft, aber es ist auch heilsam.

Ich selbst habe mit jedem Scheitern viel gelernt, ich weiß, dass Scheitern nichts glamouröses hat, ich weiß, dass nichts sicher ist und ich weiß, dass ich immer wieder neu anfangen kann, solange ich an das Leben und an mich selbst glaube. Ich weiß, wie ich mit weniger auskomme, als ich geglaubt habe und ich weiß, wie es sich anfühlt Ballast abzuwerfen und ich fühle, wie stark ich geworden bin mit jedem Scheitern. Ich weiß, dass es zum Leben gehört zu fallen oder umgeworfen zu werden und wieder aufzustehen. Das alles sind Lektionen, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin. Ich habe erfahren wie ein Mensch aus der Krise lernen kann, wie man Stroh zu Gold spinnt und zwar zu innerem Gold. Und nur deshalb weiß ich, wie ich andere Menschen dabei unterstützen kann mit dem Scheitern umzugehen ohne daran zu zerbrechen.

Es ist schwer Selbsttäuschungen zu überwinden und geplatzte Träume zu begraben und es braucht Zeit, eine höchst unangenehme Zeit sogar, bis man einen Zusammenbruch, von was auch immer, verkraftet.

Kluges Umgehen mit dem Scheitern ist ein Weg der kleinen Schritte. Der erste Schritt ist, es erst einmal auszuhalten, es anzunehmen und es zu betrauern. Es ist wichtig, sich nach dem Plumps Zeit zu lassen und da sitzen zu bleiben, wo man gelandet ist, bevor man in wilden Aktionismus verfällt um den Status, der davor war, wieder herzustellen. Er war, er wird nicht mehr sein. Es wird anders, aber um herauszufinden wie es anders wird, brauchen wir Zeit um uns klar darüber zu werden wohin unsere Reise gehen soll. Sie geht nicht zurück, niemals geht sie das. Wenn wir das begriffen haben wird langsam der Wunsch wach das Scheitern als Chance zu begreifen.




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