Montag, 2. Dezember 2024

Aus der Praxis: Vom Opfer zum Gestalter

 



„Ich gebe die Opferrolle auf und übernehme Verantwortung“, steht auf einer der Lebenskarten, die ich manchmal in der Praxis verwende.
Aber was steckt hinter so einem Satz?
Zunächst, muss man unterscheiden zwischen Opfer und Opferhaltung. Wer Opfer ist oder Opfer war, begibt sich nicht unbedingt automatisch in die Opferrolle.
Schauen wir mal genauer hin.
 
Was ist ein Opfer?
Opfer ist ein Mensch, wenn ihm Schaden zugefügt wird.
In der Kriminologie wird das Opfer als die geschädigte Person eines Verbrechens definiert, jemand, der durch einen Täter in seinen Rechten verletzt wurde. Dies Verletzung kann körperlicher Natur sein. Dazu zählen: Mord, Körperverletzung, Gewalt, gefährliche Drohung, Beeinträchtigung der sexuellen Integrität und/oder der Selbstbestimmung. Sie kann ideeller Natur sein wie z.B. Beleidigung und sie kann materieller Natur sein wie z.B. bestohlen werden oder Sachbeschädigung.
Allgemein bezeichnet man ein Opfer als einen Menschen, der entweder aufgrund der Handlungen eines Täters oder aufgrund von Krankheit, Katastrophen, dem Schicksal oder dem Zufall verletzt, beschädigt oder getötet wird.
 
Wie werden Opfer wahrgenommen?
Opfer werden in der Gesamtheit ihrer Person als hilflos, ohnmächtig, gedemütigt, ausgeliefert, schwach, wehrlos, verletzt und beschädigt wahrgenommen.
In der Jugendsprache und in Gefängnissen z.B. wird der Begriff „Opfer“ abwertend benutzt, er wird aufgrund des Verhaltens der betreffenden Person mit Schwäche, Passivität und Hilflosigkeit assoziiert. „Opfer“ haben einen schlechten Stand und sind Demütigungen und Verletzungen ausgesetzt.
In der Psychologie bezeichnet man als Opfer eine von negativen Ereignissen wie Gewalt (seelisch oder körperlich) und von Trauma betroffene Person. 
 
Was ist die Opferhaltung?
Die Opferhaltung hat nicht unbedingt damit zu tun, tatsächlich ein Tatopfer oder ein Katastrophenopfer zu sein. Wenn man von Opferhaltung spricht geht es vielmehr um die innere Haltung und die Einstellung eines Menschen. Wer sich als Opfer fühlt, fühlt sich anderen, dem Leben, der Vergangenheit, dem Trauma, dem Schicksal ausgeliefert und ist nicht bereit oder fähig Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen. Er sieht, interpretiert und lebt das Leben aus der Identität des Opfers. 
 
Die Opferrolle ist eine innere Haltung die u.a. folgende Charakteristika aufweist: 
 
1. Die externe Verortung von Kontrolle auch „external locus of control“ genannt, im Gegensatz zur Kontrollüberzeugung. Es besteht die innere Überzeugung, keine eigene Kontrolle über Entscheidungen, Verhalten und Handlungen zu haben und den Dingen hilflos ausgeliefert zu sein.
2. Schuldzuweisung: Eine zentraler Punkt der Opferrolle ist, jegliche Schuld von sich zu weisen. Es besteht die innere Überzeugung, dass generell andere oder das Schicksal an dem, was geschieht oder geschehen ist, schuld ist. Eigene Anteile werden nicht gesehen, nicht in Erwägung gezogen oder von sich gewiesen.
3. Alles persönlich nehmen und konkret auf sich selbst zu beziehen: Das heißt, jede Art von Kritik und äußere Umstände werden im direktem Bezug auf sich selbst wahrgenommen und als negativ empfunden.
4. Ausreden: Dazu gehört das „eigentlich“ Denken. „Eigentlich will ich, aber ich kann nicht weil …". Es werden immer Gründe im Außen gesucht und dafür verantwortlich gemacht, warum etwas ist, wie es ist und warum es unveränderbar ist.
5. Sich selbst Kleinmachen: Dazu gehören dysfunktionale innere Überzeugungen und destruktive Glaubenssätze, die mental klein machen. Z.B: Ich bin wehrlos, ein vom Schicksal gebeutelter Mensch, ich habe nichts Gutes verdient, Gott straft mich, Gott hat mich verlassen, ich bin arm dran, ich habe immer Pech, ich bin vom Leben bestraft, ich bin schwer traumatisiert, ich kann nichts, ich bin nichts und und und und. Dazu gehören auch Überzeugungen wie „Alle oder das Leben ist sind gegen mich“ oder „Niemand versteht mich und niemand kann mir helfen.“
 
Kurz: Ein Mensch, der in der Opferrolle feststeckt, empfindet sich grundsätzlich als machtlos und ausgeliefert und nicht als Gestalter seines Lebens.
 
Wie kommt es dazu?
Die Opferhaltung ist eine Coping Strategie, die wir aufgrund traumatischer oder sich wiederholender negativer Erfahrungen entwickelt haben, um uns vor weiteren Verletzungen und Wunden zu schützen. Aber diese Strategie geht nicht auf. Sie ist ein meist unbewusster untauglicher Versuch um Verständnis, Schutz, Hilfe, Zuspruch, Mitgefühl und Rücksichtsahme zu erhalten.
Traumata und Probleme lösen sich aber nicht, indem wir uns mit der Opferrolle identifizieren und keine Verantwortung für unsere Handlungen im Jetzt übernehmen und in Schuldzuweisungen anderen oder einer höheren Macht gegenüber, stecken bleiben.
Diese innere Haltung führt nur weiter in die Ohnmacht.
Sie hat sich selbst verstärkenden Charakter.
Wir geben die Kontrolle über unser Leben damit vollends ab und sind unfähig unser Leben zu gestalten. Wir bleiben in der Vergangenheit stecken und überladen das Jetzt mit dem Vergangenen. So kann keine Entwicklung und kein Wachstum stattfinden.
Der Weg raus aus der Opferrolle bedeutet kurz gesagt: Die Bereitschaft zu entwickeln sich selbst als Gestalter des eigenen Lebens zu ermächtigen, und zwar unabhängig von dem, was war, und von äußeren Einflüssen und Umständen.
Er bedeutet eine Entscheidung zu treffen: Nämlich Eigenverantwortung, Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit erreichen zu wollen und dies auch zuzulassen. Das ist kein leichter Weg, es ist ein Prozess, wie jede Entwicklung zum Besseren hin. Jede Veränderung in Richtung Genesung beginnt mit der Entscheidung etwas anders zu machen und mit der unbedingten Bereitschaft es zu tun. 
 
Nachtrag 

Der Begriff "Victim Blaming" bedeutet zu deutsch: dem Opfer die Verantwortung zuschieben. Also eine Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses. Das Opfer ist schuld an dem ihm widerfahrenen Unrecht und nicht der Täter. Das Opfer wird damit zum Täter erklärt. Victim Blaming ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Opferhaltung. Opfer sind in diesem Punkt hochempfindlich, weil sie oft den Unterschied nicht erkennen.
Victim Blaming bedeutet: Das Opfer ist schuld.
Opferhaltung bedeutet: Man ist Opfer und ergibt sich in die Opferhaltung, was bedeutet: man ergibt sich der Hilflosigkeit und der Ohnmacht und bleibt in der Überzeugung stecken: Ich bin ein Opfer, folglich bleibe ich immer ein Opfer.
Man identifizert sich mit dieser Haltung.
Das Trauma kann so jedoch nicht gelöst werden.
Es löst sich dann, wenn die Bereitschaft besteht vom Opfer zum Gestalter zu werden und Selbstermächtigung zu erlangen, indem man das Trauma aufarbeitet und sich professionelle Hilfe sucht. 
 
Die Gründe warum Menschen die Opferrolle beibehalten und es nicht schaffen diese selbstschädigende Haltung wieder zu verlassen, sind vielfältig und bei jedem andere.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Schuld nicht beim Opfer, sondern immer beim Täter liegt. Die Verantwortung für das Verbleiben in der Opferrolle liegt beim Opfer selbst.
 
„I will do good
no matter what
no matter what happens to me
I will do good
It´s an absolute rejection of the idea of being a victim
I will do good
no matter how much suffering comes my way
no matter how much undeserved suffering comes my way
i will not loose faith
I will do good“
 
- David Millar
 
Lebenskarten: www.lebenskarten.de
 
Angelika Wende

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