„Wo soll sie dann hin, die Liebe, wenn sie nicht gedeihen kann?“, fragte mich gestern ein Freund. Das ist eine tiefgründige und traurig machende Frage zugleich. Ja, wohin mit der Liebe, wenn sie nicht gedeihen kann? Anders formuliert, wohin mit der Liebe, wenn es keinen Ort gibt an dem sie gedeihen kann? Wenn es keinen Empfänger gibt, der sie nehmen will? Keinen Platz, an dem sie sich entfalten und lebendig sein kann, so dass sie fühlbar wird in uns, die wir sie hineingeben, in ein Subjekt oder ein Objekt. Picasso sagte einmal sinngemäß: „Wenn ich keine Menschen um mich hätte, würde ich einen Türknopf lieben oder einen Nachttopf, irgendwas.“
Krasse Aussage. Wie kann man einen Türknopf lieben, könnte man sich fragen? Man kann auch einen Nachttopf lieben, würde ich sagen, in Übereinstimmung mit Picasso. Es geht hier nicht um den Nachttopf und es geht nicht um den Türknopf – es geht allein darum liebevolle Resonanz zu empfinden zu etwas, egal was es ist. Liebe braucht Resonanz. Ohne Resonanz verkümmert sie. Aber es muss nicht immer diese eine Liebe sein, die wir jemanden entgegenbringen, auch wenn viele genau das verstehen und meinen, wenn sie von Liebe sprechen. Liebe ist weit mehr. Liebe ist zunächst in uns selbst. Nur weil sie in uns selbst ist, kann sie überhaupt nach Resonanz verlangen und in Resonanz gehen. Aber viele Menschen spüren diese Liebe in sich selbst nicht oder sie haben keinen Zugang zu ihr. Da muss erst jemand kommen um sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken. Ist da niemand, der die Liebe erweckt, wird sie nicht gefühlt oder sie wird gefühlt und weiß nicht wohin mit sich und dann wird sie ganz traurig und einsam und wir haben das Gefühl es gibt sie nicht für uns. „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, heißt ein Buch von Carson McCullers. Es „jagt“ nach Liebe. Nach dem einen, der uns liebt, damit unsere Liebe andocken kann, damit sie weiß, wo sie gedeihen kann. Gibt es diesen Ort des Gedeihens nicht, weiß sie nicht, wohin mit sich. Das kann sehr einsam machen. Nicht nur allein, sondern zutiefst einsam innen, weil es unerfüllt ist, das Verlangen gehört, gesehen, berührt zu werden.
In dieser lieblosen Einsamkeit fehlt der eine Mensch, dem wir uns nah und verbunden fühlen. Unsere Intimitätsbedürfnisse bleiben resonanzlos, unsere emotionalen Erfahrungen sind nicht mitteilbar, nichts kann geteilt werden – wir sind singuläre Menschen, ohne erfüllenden Kontakt, ohne Nähe, auf uns selbst reduziert. "Monaden, die keine Fenster haben, durch die etwas ein- oder austreten könnte", wie es Gottfried Wilhelm Leibniz sinngemäß beschreibt. Dann vielleicht doch den Türknopf lieben. Lieben was da ist. Der Türknopf als Metapher für all das, was es zu lieben gibt. Uns selbst, die wunderschöne Erde auf der wir leben dürfen, die Dinge, die wir lieben, die Tätigkeiten, die wir lieben, die uns in den Flow versetzen und uns Glück empfinden lassen, Augenblicksglück liebevoller Momente. Die Liebe zum Wahren, Guten und Schönen, das es trotz allem Unheilsamen auf der Welt gibt, diese Trias, wenn wir sie sehen können. Wir können sie gedeihen lassen, wir selbst, indem wir das Wahre, das Gute und das Schöne in uns fühlen, es erkennen, uns ihm öffnen, in Resonanz damit gehen. Dazu brauchen wir keinen anderen Ort als unser Herz und unsere Sinne. „Die Liebe ist in allen Dingen gleichsam die Seele und das Auge. In dieser Liebe schließt sich der Lauf der Welt. Liebe ist die volle Wirklichkeit des Guten", schreibt Hildegard von Bingen. Besser kann man es nicht ausdrücken.
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