Freitag, 27. März 2020

Sich selbst ernst nehmen



Foto: Alexander Szugger


Viele Menschen glauben „heil sein“ bedeutet keine Probleme mehr zu haben, keine Ängste, keine Trauer, keine Wut mehr zu fühlen. Aber all das nicht mehr fühlen zu wollen ist krank, im Sinne von gefühllos sein. Das ist der Wahnsinn der Normalität, der Wahn vom perfekten dauerhaft glücklichen Menschen.

Seit Anbeginn der Psychoanalyse vor gut hundert Jahren, mit dem Ziel die seelische Landkarte des Unbewussten zu erschließen, wurde die Macht der Gefühle zum Thema empirischer Wissenschaften. Körper und Geist bilden eine Einheit, Empfinden, Fühlen und Denken sind untrennbar miteinander verbunden. Die verschiedenen geistigen Prozesse finden zwar in unterschiedlichen Regionen des Gehirns statt, sind aber miteinander verflochten und bedingen sich gegenseitig. Wie also soll das gehen Gefühle, die nicht sein dürfen, wegzudenken, ohne diese Einheit massiv zu stören, ohne dabei krank zu werden?

Gefühle und Empfindungen vermitteln zwischen bewussten und unbewussten Prozessen. Das bedeutet – nur über meine Gefühle komme ich zu mir selbst, zu dem Menschen, der ich bin – ich werde mir meiner selbst bewusst. Die Grundlage dieses Selbstbewusstseins ist das Empfinden im eigenen Körper.

Der Grundsatz des französischen Philosophen Descartes "Ich denke, also bin ich" hat sich längst überholt. Er steht im Gegensatz zu den Forschungsergebnissen international bedeutender Hirnforscher und dieser Grundsatz lautet: "Ich fühle, also bin ich".

Wer sein Denken und Fühlen zugunsten einer Identifikation mit den Erwartunge und Maximen einer Gesellschaft verwerfen muss, wird im Zweifel zeitlebens von einem unbewussten inneren Selbsthass begleitet sein, der sich von innen nach außen frisst, ein Hass, der das Gefühl für sich selbst vernichtet und damit auch das Gefühl für Andere. Mit dem Negieren der eigenen Gefühlswelt geht folgerichtig auch das Mitgefühl zugrunde, ein Grund warum die Gesellschaft in der wir leben, auf Dauer nicht überlebensfähig sein wird wie sich gerade zeigt.

"In unserer Kultur sind am erfolgreichsten die", schreibt der Psychologe und Autor Arno Gruen "die am meisten von ihren Gefühlen und von der Fähigkeit zum Mitgefühl abgeschnitten sind. Wir glauben, wenn wir zu jemandem sagen "Das schmerzt mich", sind wir schon unterlegen.
Das stimmt aber nicht. Es zeigt vielmehr, dass wir stark genug sind, es zu sagen, ohne dem anderen damit ein Unterwerfungssignal zu geben."

Wirkliche Stärke bedeutet wahrhaftig sein, es bedeutet zu dem zu stehen wer und was wir sind, mit allem was uns ausmacht. Die Betonung liegt auf allem – also aller Gefühle und aller Gedanken, die wir haben. Stärke bedeutet auch aufhören zu können, wenn man spürt, dass man schwach ist, sich sich selbst zuwenden und was gefühlt wird ernst zu nehmen. Uns ernst nehmen.

Stark sein bedeutet nicht wegzusehen, nicht sich zu verstecken vor dem was da in uns ist, oder es uns schön oder wegzureden und damit uns selbst und etwas vorzugaukeln.

Sich selbst ernst nehmen, das ist authentisch.
Authentizität bedeutet echt zu sein, ehrlich und wahrhaftig zu sein. Mit anderen Worten: unser Denken, unser Fühlen und unser Handeln stimmen überein.

Ein sich seiner selbst bewusster Mensch lässt seine Gefühle zu, er achtet sich selbst, er quält sich nicht mit einem krampfhaften positiven Denken müssen, er macht sich selbst und anderen nichts vor, um den Schein des „alles ist gut“ oder "alles wird gut" zu wahren. Ein selbstbewusster Mensch weiß, dass das Zulassen aller Gefühle ihn zu dem führt, was wir alle als Kind einmal konnten, nämlich – zu fühlen was ist und damit wahrhaftig sein.

Unheilsam ist alles, was wir mit Macht verdrängen. Alles Verdrängte holt uns an irgendeiner Stelle wieder ein, es fordert die Beachtung, die im zusteht. Deshalb beginnt Heilung da, wo wir das Ganze fühlen dürfen, und nicht indem wir Gefühle, die in uns sind, abwehren, verdrängen, schönreden oder abspalten.

Namaste
Möget Ihr gesund sein.

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