Mittwoch, 11. September 2019

Ich will gerettet werden

Foto: Angelika Wende

Die Stunde geht dem Ende zu. Noch immer sitzt sie vor mir, nicht zugänglich, stur. Sie hat viel geweint in den vergangenen vierzig Minuten. Ein hilfloses, verzweifeltes Weinen. Und immer wieder: Ich will, dass mich jemand rettet. Ich schaffe das allein dieses Mal nicht.

Sie habe es immer geschafft, sage ich. Ich weiß, sie schaffen es auch dieses Mal. Ich kenne sie lange genug um zu wissen, sie ist stark. Sie hat viele Schicksalsschläge gemeistert.

Aber dieses Mal ist es anders, sagt sie.
Ich bin nicht mehr jung. Ich habe nicht mehr die Kraft neu anzufangen.
Und ich will es auch nicht mehr, setzt sie trotzig dahinter.

Ja, sie wollen nicht, antworte ich.
Sie grinst wie ein Kind, dem man endlich Recht gibt.
Ich muss lächeln.

Sie fragt, warum ich sie auslache.
Ich lache sie nicht aus, sage ich. Es berührt mich wie trotzig sie sein können.

Ich will nur ihn, sagt sie. Ich will nicht ohne ihn sein. Mein Leben ist leer ohne ihn. Ja, ich weiß, dass er mich immer wieder verletzt. Ich weiß, dass er mich betrogen hat.
Aber da ist all das andere. Ich fühle mich zum ersten Mal im Leben verstanden, angenommen. Er lässt mich sein wie ich bin. Es ist egal, was ich mache, er verzeiht mir alles. 

Aber sie können ihm nicht verzeihen, sage ich.

Nein, das kann ich nicht.

Warum können sie es nicht?

Sie sieht mich an, das ist es ja, ich weiß es nicht. Ich versuche es ja, aber etwas in mir kann es nicht. 

Sie wollen nicht, sage ich.

Sie schweigt eine Weile.

Ja, das ist so, ich will nicht.

Liebe verzeiht, sage ich.

Dann liebe ich ihn eben nicht genug, antwortet sie.

Aber sie wollen ihn auch nicht loslassen.

Ich kann nicht, sagt sie.

Sie wollen nicht, antworte ich.

Ja, ich will nicht.
Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will.
Außer, dass ich gerettet werden will.
Einmal im Leben will ich, dass jetzt jemand kommt und mich rettet.

Ich schaue sie an. Sie berührt mein Herz.
Wie ein Kind sitzt sie vor mir. Ein Kind, das seinen Teddybären verloren hat und völlig verzweifelt ist. Aber jeden anderen Teddy, den man ihm anbietet, will es nicht.
Ich sage ihr was ich vor meinem inneren Auge sehe.

Sie haben Recht, ich will nur ihn. Alle anderen interessieren mich nicht. Nichts anderes interessiert mich. Ich kann ohne ihn nicht leben.
Ich bin störrisch heute, ich weiß, grinst sie mich an.

Ja, sage ich, heute sind sie störrisch.
Und das ist okay.
Gut, sie wollen gerettet werden?

Ja, ich will gerettet werden. Ich will nicht mehr alles alleine machen müssen.
Ich bin müde vom Kämpfen. Ich will nicht mehr kämpfen.

Aber sie kämpfen wie verrückt.

Wieso?

Nun, sie wollen mit aller Macht etwas, was sie nicht bekommen können. Das ist Kämpfen.

Was will ich denn?

Einen Retter.

Ja, aber den gibt es für mich nicht.

Und warum nicht, was denken Sie?

Ich weiß es nicht. 

Nun, weil sie nicht irgendeinen Retter wollen. Den gäbe es vielleicht. 
Etwas in ihnen selbst zum Beispiel, das sie retten könnte.
Aber das wollen sie nicht zulassen.

Stimmt, weil ich will, dass ER mich rettet. Er hat mich verletzt. 
Er soll es wieder heil machen, es ungeschehen machen.

Das ist das Problem, sage ich.

Ja, antwortet sie, das ist mein Problem. 

Und wie könnten sie es lösen?

Sie sieht mich lange an.
Ich könnte diesen sinnlosen kindischen Gedanken aufgeben.

Ja, das könnten sie, wenn sie es wollen.


















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