Dienstag, 16. Juni 2015

AUS DER PRAXIS – "Sie konnten nicht anders ..."

 



„Sie konnten nicht anders“, wie oft sagen Menschen das, wenn es darum geht, als Erwachsener  anzuschauen was die eigenen Eltern dem Kind angetan haben. Und auch wenn es wahr ist, dass sie nicht anders konnten, so ist diese Haltung des Verstehens, wenn es um die Verarbeitung kindlichen Missbrauchs geht, egal ob körperlich oder emotional, niemals heilsam, denn sie verschleiert die Wahrheit – nämlich, die geschehene, an eigenem Leib und Seele erfahrene Tat.

Diese Solidarisierung mit den Eltern führt dazu, dass das Kind noch als erwachsener Mensch in der Perspektive der Eltern denkt und fühlt. Es begreift ihr schlechtes Handeln gegen sich selbst als sein eigenes Versagen, als seine Schuld und fühlt sich damit schuldig. In der Solidarisierung mit den Eltern versucht das Kind zu verstehen, warum sie sind wie sie sind, weil es sie liebt und der Verlust dieser Liebe für es selbst den seelischen Tod bedeuten würde. Deshalb ist auch das missbrauchte, misshandelte und gedemütigte Kind bereit alles zu verstehen und zu verzeihen. Nur sich selbst kann es nicht verstehen und nicht verzeihen. Es darf es nicht, denn das würde bedeuten, sich von der Bindung zu den geliebten Eltern zu trennen und sie als das zu erkennen was sie wirklich sind, nämlich keine Opfer des „nicht anders Könnens", sondern Täter, Täter am Seelenheil des eigenen Kindes. Diese Erkenntnis würde die oft lebenslang unterdrückte, in Schmerz oder Trauer verwandelte Wut auslösen, die missbrauchte und misshandelte Kinder in sich tragen, eine Wut, die unausgedrückt wuchert wie eine giftige Pflanze bis sie den erwachsenen Menschen vollends vergiftet. Diese Wut gegen die geliebten Eltern aber darf nicht sein. Sie ist ein Tabu, das unangetastet bleiben muss.

Die unterdrückte Wut aber ist hoher Preis für eine Liebe, die immer nur einseitig war, eine Liebe, die Kinder missbrauchender und misshandelnder Eltern, aber nicht aufgeben können, denn diese Wut endlich zu fühlen und zuzulassen würde bedeuten, diese Liebe zu hinterfragen, sie vielleicht sogar aufgeben zu müssen und das heißt – der schrecklichen Wahrheit ins Gesicht zu sehen ein ungeliebter Mensch zu sein. Dieses Gewahrsein bedeutet einen zunächst einen Sturz in die absolute Leere, ins Nichts. Vor nichts aber haben Menschen so sehr Angst wie vor dem Nichts.

2 Kommentare:

  1. Hallo Angelika,

    bisher habe ich geglaubt, dass es mir helfen würde wenn ich "verstehe" und die Motive meiner Eltern nachvollziehen kann. Ist dem nicht so?
    Wie differenziere ich die Handlungen meiner Eltern von meiner eigenen Wahrnehmung? Aber es stimmt: Ich habe Wut in meinem Bauch zu der ich nur schwer Zugang habe, das ist bis jetzt noch nicht besser geworden.

    mfg sporch

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  2. hallo sporch,

    ich habe was mir angetan wurde bis weit über die mitte meines lebens zu verstehen und zu entschuldigen versucht. ich habe mir die alte ohnmächtige wut selbst nie erlaubt. aber sie auszusprechen ist so wichtig, denn tun wir das nicht, implodiert diese wut oder sie explodiert ins aussen und trifft jemanden, der nicht der verursacher ist. ich habe irgendwann einen guten berater gefunden, der mir diese wut erlaubt hat. sie dir zu erlauben ist wichtig. dann erst können wir irgendwann vielleicht verstehen und schleißlich verzeihen. und: verzeihen heißt nicht, es gut zu heißen!

    von herzen,
    angelika

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