Mittwoch, 16. April 2014

AUS DER PRAXIS - Wut ist Treibstoff





Wenn wir über alle Maßen wütend sind ist das ein sehr inhaltsschwerer Ausdruck: Wir haben das Gefühl für unsere wahren Maße, unsere Größe, unsere Kraft und unsere Macht verloren, wir erleben uns als klein, schwach und nichtig. Wir fühlen uns ohnmächtig.

Die Wurzel aller Wut ist das Gefühl von Ohnmacht.

Ohnmacht hat viele Gesichter. Alle sind unschön und bedrückend und wir unterdrücken die Ohnmacht, sobald wir sie fühlen oder wir flüchten vor diesem schwer aushaltbaren Gefühl. Wir konsumieren Dinge, die wir nicht brauchen, wir tätigen Frustkäufe, stopfen zu viel Essen in uns hinein, trinken zu viel Alkohol, kiffen, rauchen und all das wohl wissend, dass es unsere körperliche und seelische Gesundheit schädigt. Wir ruinieren unser Hirn, unser Herz und unsere Seele, um die unguten Gefühle, die hochkommen wollen, zu unterdrücken, um sie nicht fühlen zu müssen. Das gesamte Repertoire des Ausagierens unserer Abwehr in Form von suchtgleichen Handlungen steht unter dem unbewussten Motto: Bloß nicht wieder ohnmächtig sein!

Immer wenn wir uns ohnmächtig fühlen sind wir in Wahrheit „mächtig“ vor Wut, wir haben nur noch nicht erkannt wie wir sie, anstatt sie nach Innen zu drücken, und durch Substanzen oder wenig hilfreiches Verhalten, ins Außen fließen zu lassen, als kreativen Treibstoff sinnvoll und effektiv für uns nutzen zu können.

Wut, die an uns nagt, ist die Wut über unsere eigene Ohnmacht.

Und wir bleiben solange in der Ohnmacht stecken, bis wir nicht für uns selbst eintreten. Wut dagegen fordert uns auf vorzutreten, uns ernst zu nehmen, unsere Gefühle zuzulassen, uns auszudrücken und so groß und stark zu werden, wie wir es sind.

Wie oft hassen wir uns selbst für unsere Unfähigkeit Klartext zu reden, auszusprechen was wirklich ist, wie oft schämen wir uns vor uns selbst, dafür, dass wir nicht endlich sagen, was wir wirklich denken, nicht tun, was wir wirklich wollen und ständig tun, was andere von uns wollen. Stattdessen kompensieren wir, lenken uns ab oder tun sogar so, als sei alles in Ordnung.
Wenn wir auf jemanden wütend sind, wenn wir auf eine Situation wütend sind, ist das ein Zeichen. Es zeigt auf uns selbst, es be"deutet": Wir lassen etwas zu, obwohl wir genau spüren - wir sollten uns wehren, wir sollten handeln und der eigenen Wahrheit eine kraftvolle Stimme geben. Wir wählen Ohnmacht.

Wenn wir uns darüber aufregen, dass ein anderer uns nicht achtet, nicht ernst nimmt und uns verletzt, klagen wir im Grunde darüber, dass wir das selbst nicht tun, dass wir uns nicht genug achten, dass wir uns selbst nicht ernst nehmen. Wir wählen Ohnmacht.
Wir alle haben als Kind auf mehr oder weniger massive Weise Ohnmacht erlebt und in vielen von uns steckt es noch, dieses Gefühl aus Kindertagen, in denen wir auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen ausgeliefert waren.

Während der Entwicklung auf der emotionalen Ebene haben wir als Kind emotionale Bedürfnisse. Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist groß, so groß, dass wir als Kind alles nehmen, was wir bekommen: Im besten Falle Liebe, Wärme und Geborgenheit; im schlimmsten Falle Misshandlungen oder Missbrauch. Letzteres sind Ohnmachtserfahrungen die uns ein Leben lang unbewusst beeinflussen. Ohnmacht, das ist der totale Kontrollverlust, die absolute Starre, die sich einbrennt in jeder Faser. Das greift tief und bleibt stecken, tief in der Seele, bis hinein ins Erwachsenenleben.
Wer massive Ohnmachtserfahrungen gemacht hat, will als Erwachsener in die Macht und er wird immer ein Thema mit Kontrolle haben. Je massiver der Kontrollverlust empfunden wurde, desto stärker ist die Angst die Kontrolle wieder zu verlieren, also kontrollieren wir - auch die Wut, die in der Ohnmacht steckt - und lassen sie nicht heraus.

Es kann uns keiner wütend machen wenn wir mit uns selbst im Reinen sind. Und dazu gehört eben auch die alten Ohnmachtserfahrungen anzuschauen und sie zu bereinigen.

Solange wir uns selbst nicht die Wertschätzung, die Achtung und die Liebe geben, die wir so dringend brauchen, sind wir angreifbar. Wenn wir nicht selbst für uns handeln, handeln andere für uns. Wir werden zum Spielball, den andere hin und her werfen, anstatt den Ball selbst zu werfen. So wie als Kind. Wir erfahren im Außen das, was wir von uns selbst denken, denn so wie wir über uns denken, so werden wir uns fühlen, so geben wir uns. So wie wir über uns selbst denken, behandeln wir uns – und dann wundern wir uns, warum die anderen uns genauso behandeln.
Wenn wir unsagbar wütend sind, ist etwas „ungesagt".

Wir sagen nicht was wir denken, wir sagen nicht, was wir wollen und was wir fühlen. Wir ergreifen nicht die Macht der Worte um das Auszusprechen, was raus will. Wir erfahren keine Selbstwirksamkeit.

Wo innen keine Wut ist kann sie von außen nicht entzündet werden.

Ein Mensch der mit sich im Reinen ist, der selbstbestimmt und selbstwirksam lebt, ein Mensch, der in der eigenen Macht ist, empfindet keine Wut. Darum ist es so heilsam unsere Wut zu fühlen, sie fühlen zu dürfen und sie auszudrücken, um an die wahren Gefühle heranzukommen, die sich hinter der Wut verstecken. Erst wenn die Wut gefühlt wird, nehmen wir uns selbst ernst und erst dann nehmen wahr, was wir versäumt haben für uns zu tun. Ja, wir für uns, denn die, die uns ohnmächtig gemacht haben, werden nichts für uns tun, sei es, weil sie sich dessen nicht bewusst sind oder weil sie es einfach nicht können oder wollen. Und das macht oft noch wütender und noch ohnmächtiger.

Solange wir die Wut verleugnen, anstatt sie anzunehmen und ja zu ihr zu sagen, ihr zuzuhören was sie uns wirklich sagen will, riskieren wir, dass wir in der Ohnmacht festsitzen - wir sind blockiert für das, was fließen will - nämlich Energie, unsere Lebensenergie. Wut will gefühlt werden wie alle unsere anderen Gefühle auch – sie ruft uns auf in unsere Kraft zu kommen von der wir oft nicht einmal wissen, dass wir sie haben. Die Ohnmacht bindet Kraft.

Wut ist Energie, kraftvolle Energie, die in die richtigen Bahnen geleitet, dazu führt, dass wir aus der Opferrolle aussteigen. Wir sind dann nicht mehr länger Opfer unserer ohnmächtigen Wut, sondern wir suchen nach einer Lösung für das, was verändert werden will, wir fragen uns: Was kann ich für mich tun, damit ich diese Wut nicht mehr brauche? Der Weg ist das Anerkennen der Ohnmacht, erst mal. In sie müssen wir hineinspüren bis es weh tut. Dann erst kann es gelingen den Knoten, der uns innerlich verschließt, zu lösen.

Sie darf sein, die Wut. Und nein, sie ist nichts Schlechtes, wenn wir bewusst in sie hineingehen für uns, in uns, sie zulassen, sie wandeln in die Kraft, die uns wieder selbstmächtig macht. Dann ist Wut gewandelt in eine Quelle kreativen Treibstoffs.

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