Es
war einmal ..., so beginnen Märchen.
Das
Wunderbare an den Märchen ist, dass wir – ob als Kind oder als Erwachsener –
Geborgenheit in ihnen finden und das seltsamerweise, obwohl jedes Märchen immer
auch etwas Grausames und zutiefst Dunkles in sich trägt. Märchen
beherrschen die Kunst, die Polaritäten und Gegensätze unserer menschlichen
Existenz zusammenzufügen, sie eins werden zu lassen, untrennbar miteinander verbunden
und einander bedingend. Intuitiv verstehen wir im Märchen die elementaren
Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Wir fürchten uns nicht, weil uns alles
selbstverständlich erscheint und weil wir wissen, dass jeder Märchenheld, jede
Figur, egal ob Hexe, Magier, böse oder gute Fee, ihre ureigene Funktion
erfüllt. Im Märchen begreifen wir das Ganze. Wir lauschen fasziniert, und
unserer Innerstes weiß: Ja so ist es, bis
dass der Tod sie scheidet oder ... und
wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Märchen sind
tröstlich, denn am Ende siegt
die Kraft der Liebe und das schenkt uns Zuversicht.
Vielleicht wäre Cyrus Overbeck Märchenerzähler geworden,
wäre er nicht ein Maler. Seine Werke tragen dieses Märchenhafte in sich. Sie erzählen
von Licht und Schatten, von Gut und Böse, von Schönheit und Vergänglichkeit,
von Freude und Leid, von Liebe und Tod, von Vanitas, Eros und Thanatos – und
immer ist alles eins.
Wie der Magier im Märchen jongliert er mit den großen Themen
der menschlichen Existenz, eulenspiegelhaft und mit der Leichtigkeit des
Schlages zarter Schmetterlingsflügel, sich der Gefahr der Verletzung bewusst, die
beginnt, sobald der schützende Kokon schmerzhaft durchbrochen wird und das
eintritt, was Leben ist. Der Magier kennt die Gesetze der Dualität, er weiß,
dass sein Geist Materie erschaffen kann, er arbeitet mit Affirmationen, Allegorien
und Symbolen, er ordnet sich den kosmischen Gesetzen unter und ist permanent
auf der Suche nach Vervollkommnung. Er tut seine magische Arbeit mit dem
Bewusstsein: Es geht um die Kunst, die irdische Existenz sinnvoll zu gestalten
und die ureigenen Potenziale zu entfalten. Er weiß um die Macht der bedingungslosen
Liebe, und er weiß auch, die Liebe
bewahrt nicht vor Leid, uns selbst nicht und die, die wir lieben nicht, und dennoch
ist sie die stärkste Kraft.
Getragen von der Sehnsucht nach
Geborgenheit und Liebe ist Overbecks Schaffensdrang ungebrochen. In jedem Bild, in jeder Plastik seines neuen Œuvres folgen
wir der Textur des magischen roten Fadens, der sich durch das Gesamtwerk zieht
und in der Zwei- und Dreidimensionalität immer wieder neu Gestalt annimmt: eine
vibrierende duale Schwingung von überbordender Lebenslust und tiefer
Melancholie, geboren aus dem Bewusstsein, jeder ist allein und aus der
Erkenntnis, dass allein die Liebe uns heilen kann. Die zutiefst menschliche
Sehnsucht nach dem Einssein mit allem, um das Gefühl des Getrenntseins zu
überwinden, manifestiert sich Zeichen gleich auf Leinwänden, in Holzschnitten, in
bezaubernden, kleinen Farbradierungen und in barock anmutenden skulpturalen
Kompositionen, deren eindringliche Energie auf den Betrachter wirkt und ihn
dort abholt, wo der moderne Mensch steht – erschöpft und leer von der Sattheit
seiner Welt, müde und depressiv von der Leistungsgesellschaft, die ihm gnadenlose
Selbstausbeutung abfordert, innerlich verlassen auf der Suche nach dem, was ihn
von innen hält.
Der
moderne Mensch liest keine Märchen mehr, er findet kaum mehr Geborgenheit,
weder in den alten Mythen, noch in sich selbst. Er leidet still an seiner
unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. In seiner Welt herrscht das Verbot der
Leidenschaft und des Eros. Damit verträgt sich das Leistungsprinzip einer vom Habenwollen beherrschten Gesellschaft
nicht. Der Zugang zur Liebe und der damit einhergehenden Verletzung ist ihm
versperrt. Eros ist zur bloßen Erotik, zum Konsumgut, zur selbstbezogenen
Genussoption verkommen, zu einer seelenlosen Begierde, die Geborgenheit per se ausschließt.
Cyrus
Overbeck spürt die Vibrationen des Zeitgeistes, und er leidet daran. Mit seinen
Werken hält er dem Betrachter die Agonie seines Daseins vor wie einen Spiegel,
in dem dieser sich in der individuellen und kollektiven Blutleere erkennen kann,
um zu reflektieren und nachzuspüren, was ist und was sein könnte. Vielleicht
trägt der künstlerische Gärprozess in der Einsamkeit des Ateliers dazu bei,
vielleicht ist es die tief in der Biografie des Sohnes einer Deutschen und
eines Persers verwurzelte melancholische Verstimmung, vielleicht ist es die mit
einer viel zu dünnen Membran umkleidete Empathie, die diesen Großen unter den
Gegenwartskünstlern spüren und kreieren lässt, was uns alle angeht und berührt.
Overbecks neue Arbeiten
sind Allegorien archetypischer Seelenlandschaften. Damit erfüllt er eine
klassische Aufgabe, die Kunst einnehmen kann. Die
hochkomplexe Bildsprache ist übervoll von existenziellen Fragen und zutiefst
menschlichen Sehnsüchten, die nach Antworten, Ausdruck und Erfüllung streben.
Variationsreich, experimentierfreudig und getragen von einer nach Schönheit
strebenden meisterlich beherrschten Formsprache zeigt sie sich auf den Tableaus
expressiver großformatiger Ölgemälde, in zarten poetischen Radierungen und in den
in Bronze gegossenen Skulpturen. Im Spannungsverhältnis aus Nähe und Distanz,
aus Anziehung und Abstoßung schauen wir die Plastiken, die wie skulpturale
Collagen aus Versatzstücken von Kunst- und Popkultur anmuten. Formale Anleihen
aus der Kunstgeschichte werden übernommen, zitiert und mit archetypischen Symbolen
kombiniert, die neue Allegorien schaffen und existenzielle Fragen aufwerfen.
Der Torso, um
dessen Hals das Statussymbol der Fliege gezurrt ist, die Schärpe, die souverän
um die perfekte Männerhüfte gebunden ist, so hinterfragt Overbeck das überhöhte
Schönheitsideal unserer Zeit und bricht es. Er setzt ihm den Totenschädel als Metapher
für Vanitas und Vergänglichkeit auf. Das erinnert an die klassische
Vanitas-Kunst, an die, den Augenreiz kitzelnden, überbordenden Stillleben mit
ihren prallen Früchten, Figuren und Blumen, die auf den ersten Blick verlockend
erscheinen und auf den zweiten Blick vom Verfall gekennzeichnet sind. Leise
klingt Andreas Gryphius Gedicht „Es ist alles
eitel“ an. Eitel, das einer leblosen Bakelitpuppe ähnelnde Rosenköpfchen,
eitel, die ins Gebet versunkene Madonna mit den alternden Händen und den Narben
der Trauer im schönen Gesicht, eitel, der weibliche Akt, dem silberne Rosen aus
dem schlanken Hals wachsen – eitel im Sinne von Vanitas, dem leeren Schein, der Nichtigkeit und der Vergeblichkeit
alles Irdischen.
Eitel strebt jede
einzelne Figur dem ultimativen Vanitas-Symbol entgegen, dem mit Sterlingsilber
galvanisierten Overbeckschen Totenschädel. Könnten wir sie sprechen hören, so
klänge es im Chor: „Das Leben ist nur
dort, wo der Tod ist, mit dem Geborenwerden beginnt das Sterben, Eros und Thanatos
sind untrennbar eins, der ewige Zyklus des Lebens ist schön und grausig
zugleich.“ Eine ungemütliche Wahrheit, die uns da anspringt. Provokant,
lakonisch, ohne jede Dogmatik und mit Vorliebe auf dekorative Weise bestückt Overbeck
seine Protagonisten mit Rosen, dem Symbol für die Liebe im Sinne des platonischen
Eros, der den Charakter einer kosmischen Kraft in sich trägt, die den
Fortbestand allen Lebens ermöglicht. Von dieser kosmischen Kraft, die sich
nicht mit der erotischen Begierde begnügt, sondern weitaus mehr zu erfassen
sucht, nämlich das Gewahrsein, dass die Sehnsucht nach Liebe letztlich nicht
einem Individuum als solchem gilt, sondern etwas Höherem, das in jedem Menschen,
in allem Lebendigen verkörpert ist, erzählen Overbecks Werke.
Für manch
einen mag das klingen wie ein Märchen. Und die sind nicht mehr zeitgemäß. Diese
Gesellschaft schafft alles ab, was dem Begehren des Abwesenden gilt, nicht in
Suchmaschinen gefunden und nicht sofort konsumiert werden kann. Wie also seelische
Schönheit, die von den Sinnesobjekten zu den geistigen Idealen und Ideen führt
und schlussendlich zu Agape, der allumfassenden göttlichen Liebe, die mit der
Liebe zu uns selbst als Geschöpf des Schöpfers beginnt, überhaupt begreifen?
Wie Geborgenheit finden in der Leere einer seelenlosen äußeren Fülle? Der Weg
zur Erkenntnis ist schmerzvoll. Das ist die Weisheit, die in allen Märchen
verborgen liegt. Der Weg zum zufriedenen Konsumenten ist leicht, denn jede Form
von Negativität wird im positivistischen Zeitgeistdenken ausgeblendet. Das ist
das Märchen der Moderne.
Der Weg des
Helden im Märchen unserer Ahnen aber führt über die Transformation. Davon
sprechen die zarten Flügel der Schmetterlinge, die Overbeck in seinen Gemälden,
Holzschnitten und Farbradierungen um Frauenbildnisse, Tiere, Naturimpressionen
und Segelschiffe zu magischen Ornamenten arrangiert. Schmetterlinge sind seit
jeher mystisch aufgeladene Zeichen der Transzendenz. Nur im schmerzhaften Erleben
des Ausgestoßenwerdens aus der schützenden Hülle der äußeren Begrenzungen scheinen
sie uns zuzuflüstern, ist Geburt, ist Wachstum und Wandlung, ist Werden und ja,
auch Vergehen. Mit diesen tiefgründigen Arbeiten bricht Cyrus Overbeck eine
Lanze für das Leben, wie es ist, und nicht, wie wir es gern hätten, auch wenn
ihn das manchmal sehr einsam macht.
Schmetterlinge fliegen einsam, aber sie fliegen dem
Licht entgegen ... und der Flügelschlag
eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen. Das ist
kein Märchen und doch ist es Magie.
Von Herzen und in tiefer Hochachtung vor Deinem Werk
Angelika Wende
Nachtrag
Märchen beginnen
mit:
Es war einmal ...
... ein Wissenschaftler, der
beobachtete einen Schmetterling und sah, wie sehr er sich abmühte, durch
die enge Öffnung seines Kokons zu schlüpfen. Seit vielen Stunden kämpfte der
kleine Kerl, um sich daraus zu befreien. Der Wissenschaftler bekam Mitleid
mit dem Schmetterling. Er nahm ein kleines Messer und weitete vorsichtig die
kleine Öffnung des Kokons, damit sich der Schmetterling leichter befreien
konnte. Und so geschah es: Der Schmetterling
entschlüpfte plötzlich sehr schnell und sehr leicht.
Doch als der Wissenschaftler ihn
erblickte, erschrak er. Die farbenprächtigen Flügel des Schmetterlings waren
ganz kurz, und so sehr er sich auch bemühte, er konnte nur flattern, aber es
gelang ihm nicht zu fliegen.
Völlig aufgelöst nahm der
Wissenschaftler den verzweifelt flatternden, kleinen Kerl behutsam in seine
Hände und lief zu seinem Freund, einen Biologen. „Sag, warum sind
seine Flügel so kurz, und warum kann der kleine Schmetterling nicht
fliegen?“
Der Biologe fragte den
Wissenschaftler, was denn geschehen sei. Da weinte der Wissenschaftler und gab
zu, dass er dem Schmetterling geholfen hatte aus dem Kokon zu schlüpfen. „Mein
armer, trauriger Freund,“ erwiderte der Biologe, „das war das Schlimmste, was
du dem kleinen Falter hast antun können. Durch die enge Öffnung ist er gezwungen, sich
mit eigener Kraft durchzuquetschen. Erst dadurch kommen seine Flügel aus
dem kleinen Körper heraus.
Du hättest ihm dabei zusehen
können, wie er sich mit seiner ganzen eigenen Kraft aus dem Kokon
kämpft, dann ganz erschöpft zur Erde fällt, sich langsam reckt und streckt und
sich entfaltet zum Schönsten alles Schönen, um seine Flügel auszubreiten und zu
fliegen. Weil du ihm aber geholfen hast, um
ihm den Schmerz zu ersparen, hast du ihm die Kraft seiner Flügel genommen.“
(Verfasser unbekannt)
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