Dienstag, 29. Oktober 2013

Aus der Praxis - Die seltsame Welt des menschlichen Gedächtnisses oder warum Erinnerungen sich nicht löschen lassen

Foto: A. Wende

„Das Gedächtnis des Herzens merzt die schlechten Erinnerungen aus und erhöht die guten. Dank dieses Kunststücks gelingt es uns, mit der Vergangenheit zu leben“, schreibt der Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez - und irrt damit gewaltig. Wenig tröstlich für alle, denen dieses Kunststück nicht gelingt. Es ist zwar schön die Illusion des Vergessenkönnens als Option zu haben, wenn uns die schlechten Erinnerungen wieder einmal beuteln, nur, und das wissen wir im Grunde unseres Herzens, die Realität verschwindet nicht dadurch, dass wir sie nicht wahr haben wollen.
Tatsache ist: Das Gedächtnis des Herzens, zuhause im limbischen System unseres Gehirns, merkt sich Fehlschläge und negative Erfahrungen besser als das Schöne und Gute. 

"Erinnern heißt leben", schreibt der Schriftsteller Saul Bellow und trifft es damit auf den Punkt: Wir sind Erinnerung. Erlerntes, Erlebtes und Erfahrenes - der Speicher im Kopf, das Meisterstück der menschlichen Evolution - macht uns zu dem Menschen, der wir werden und sind.
Neue Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen, dass alle Erlebnisse, alle Erfahrungen, alles Gefühlte eine Spur in Form von raum-zeitlichen Aktivierungsmustern in den neuronalen Netzwerken hinterlassen. Wir müssen uns Erinnerung wie einen Film mit zeitlichem Verlauf vorstellen und nicht wie bislang angenommen, wie ein statisches Foto. Was wir in Raum und Zeit erleben wird demnach nicht als wertfreier Schnappschuss oder wertfreie Aufzeichnung der Wirklichkeit kodiert, sondern es wird mit den Bedeutungen und den Gefühlen des Augenblicks aufgenommen und verinnerlicht. 
"Das so komplex Gespeicherte entscheidet dann darüber, was wir aus dem Strom der täglichen Ereignisse herausgreifen und behalten", konstatiert Daniel L. Schacter, Harvard-Professor für Psychologie und Neurowissenschaft, und belegt dies in seinem Werk „Wir sind Erinnerung“.
Mehr noch, Gedächtnisinhalte können sich sogar ohne Erinnerungbewusstsein manifestieren, was bedeutet, dass Menschen sogar von einem früheren Erlebnis beeinflusst werden können, an das sie sich nicht mehr bewusst erinnern. Dieses sogenannte implizierte, sprich unbewusste Gedächtnis, ein Fund neuester Forschungen, hat die Ansicht vom Wesen des Gedächtnisses grundlegend verändert.

Jeder bewusst und jeder unbewusst erlebte Moment wird als Episode in der Hirnrinde als ein Erregungmuster eingelagert.  
Besonders gut lernt unser episodisches Gedächtnis, wenn ein Erlebnis eine negative Qualtität hat.  „Während alles Positive abperlt, bleibt das Negative sofort kleben“, so der Neurobiologe Rick Hanson. Das liegt daran, dass es für unser früheres evolutionäres Überleben wichtiger war unangenehme Erfahrungen zu vermeiden, als angenehme zu machen. Unser Computer da oben speichert das Unangenehme als oberste Prorität. Das erklärt, warum für viele von uns der Speicher im Kopf eine Erinnerungshölle sein kann, der wir kaum entfliehen können, auch nicht mit positivem Denken und schon gar nicht mit mentaler Schönfärberei. Eingebranntes bleibt eingebrannt und lässt sich, glaubt man den Hirnforschern, nicht aus unseren Köpfen wegkratzen wie alte Fettkrusten auf dem Herd. Damit steht auch die Annahme der kognitiven Verhaltenspsychologie – man müsse nur viele neue positive Erfahrungen machen um die alten negativen zu lösche, oder das Refraiming, die Neubewertung alter Erfahrungen, angesichts der neuesten Forschungsergebnisse, auf wackeligem Fundament.

Noch ein Grund warum das Vergessen nicht gelingen kann: Wenn wir etwas Neues erleben, reaktiviert das Gehirn immer zuerst vergleichbare Erfahrungen aus dem Gedächtnis. 
Alle Erfahrungen werden in der zeitlichen Gegenwartsform gemacht, gespeichert und auch so erinnert. Dieses erinnerte Wissen enthält exakt die Informationen unserer Reaktionen, die wir einst abgespeichert haben. Ein aktuelles Erlebnis und das reaktivierte Wissen werden sofort reflexartig gedanklich verglichen. Dabei aktiviert die temporofrontale Rindenregion Areale im Schläfen- und Scheitellappen biografische Erinnerungen, die dann im Jetzt repräsentiert werden.
Indem wir also gespeichertes Wissen reaktivieren, erleben wir Altes wieder, heißt - wir reagieren auf die neue Situation unbewusst mit den einst gefühlten Gefühlen und Gedanken und wir handeln danach, also ähnlich wie bei der zuerst gemachten Erfahrung. Fatalerweise eben auch, wenn das erinnerte Wissen nicht mit der gerade erlebten Realität übereinstimmt. Genau das macht das im Jetzt sein, im Moment sein und den Moment als das, was er ist wahrzunehmen ohne zu bewerten, so schwer. Da oben läuft ein altes Kopfkino ab und das immer wieder, unbeeindruckt davon, ob wir das wollen oder nicht.


Auch wenn wir im Jetzt sind, stecken wir in unseren Erinnerungsräumen, voll mit Dingen, die aus unserer Erfahrung stammen und die uns geprägt haben - vorzugsweise im dem ersten Drittel unseres Lebens. 
Und da gibt es bestimmte sensible und äußerst kritische Zeitfenster, in denen sich Erfahrungen unauslöschbar zementieren. Bei Kleinkindern sind die sensorischen Systeme besonders aufnahmebereit und die kognitiven Fähigkeiten wenig ausgeprägt. Sie saugen alles auf wie ein Schwamm. So prägt sich durch individuelle Lern- und Erfahrungsprozesse das Gedanken- und Gefühlsgut ein, das später unser Sein in der Welt bestimmt. Das ist ein traurige Wahrheit für alle mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat, oder die traumatische Erfahrungen machen mussten. Aber all das erklärt auch, warum wir denken wie wir denken, fühlen wie wir fühlen und handeln wie wir handeln. 
Das könnte uns milder stimmen, wenn sich der Schlund der Erinnerungshölle wieder einmal vor uns auftut oder wenn wir zum hundertsten Mal Situationen, Menschen und uns selbst mit den gleichen Reaktionsmustern entgegentreten, die wir schon immer benutzt haben. Wir könnten milde zu uns selbst sein, es uns selbst verzeihen, wenn wir nicht so sind, wie wir sein möchten und uns sagen: "Ja ich bin Erinnerung, ich denke, fühle und handle aus meiner Biografie heraus. Alle Menschen tun das. Und weil es alle tun, sind auch die anderen wie sie sind, auch wenn sie so nicht sein wollen. Und wenn wir dies im nächsten Schritt akzeptieren gelingt es uns auch milder zu anderen zu sein und nicht zu verurteilen, was uns bei dem oder der nicht in den Kram passt.

Soll das jetzt heißen wir sind Gefangene der Erinnerung, nicht fähig uns zu verändern, nicht fähig das Gute in unser Leben zu lassen und neue glücklichere Erfahrungen zu machen?
Nein, heißt es nicht. Denn es gibt Möglichkeiten mit der Erinnerung anders umzugehen, als sich ihr ohnmächtig zu ergeben oder zu sagen: Ich kann nicht anders. Es gibt den Weg der Achtsamkeit und es gibt den Weg der Selbstbeobachtung und der braucht wiederum Achtsamkeit für uns selbst. 
"Wir können unseren Geist benutzen, um unser Gehirn zu verändern, und dadurch wiederum unseren Geist verbessern", auch das sagt der Neurobiologe Rick Hanson. 
So ist es, ich erlebe es in der Arbeit mit Menschen immer wieder. 

Wenn wir beginnen achtsam zu sein, wenn wir beginnen uns selbst zu beobachten, beginnen wir uns zu verändern. Das bedeutet eine neue Qualität tritt in unser Leben - Bewusstheit. 
Und das ist mehr als im Jetzt sein, es bedeutet beobachtend im Jetzt zu sein. Uns selbst zuzuschauen bei dem was wir tun und es reflektieren. Achtsam mit uns selbst sein ist heilsam. Dazu müssen wir nicht unbedingt meditieren, auch wenn das ein hilfreicher Weg ist, um auf Dauer zu gesunden. Achtsamkeit ist immer und überall anzuwenden, sogar dann, wenn wir wieder einmal im Stress sind. Schon das bewusste Wahrnehmen dessen, was gerade ist, egal welche Qualität es hat, heißt Achtsamkeit üben, heißt bewusst mitzubekomme was gerade geschieht und zwar in uns selbst.

Der Beobachter verändert das Beobachtete. 
Wer wird sich weiter das Leben schwer machen, wenn er sich selbst bei der Hatz im dysfunktionalen Hamsterrad seiner Erinnerungsmuster beobachtet? Irgendwann wird auch der Veränderungsresistenteste begreifen: Das tut mir nicht gut. Und dann achtsamer mit sich selbst umgehen. 

Veränderung ist ein Prozess und er beginnt da, wo wir beginnen bewusst wahrzunehmen, was wir verändern sollten, um mit uns selbst milder und fürsorglicher umzugehen, trotz und mit der Erinnerung. 
Es ist gut, sich jeden Moment, daran zu erinnern.



3 Kommentare:

  1. Sehr sehr guter Artikelich- habe ihn mir ausgedruckt u. werde ihn mir sicherlich noch mehrmals durchlesen ib,

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  2. Abgespeichert wird in Engrammen, die zeitlebens wirken, trotz "positiver Vorstellungen". Abgespeichert wird nicht nur im Gehirn. Das Gehirn ist Teil des Nervensystems und Bestandteil des Gesamtorganismus, wurde und wird überbewertet. Um tatsächlich "etwas" zu bewirken erfordert dies ein ganz bestimmtes Vorgehen und ist nicht durch Befolgen von Ratschlägen von ausgerechnet US-amerikanischen "Psychologen", zu erreichen.

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