Sonntag, 11. März 2012

Aus der Praxis: Zwangspresse LIEBE


Eine gesunde Partnerschaft wird durch eine klare Außen- und Innengrenze definiert. Das bedeutet: Ein Paar grenzt sich gegenüber anderen Personen ab, es fühlt sich als Paar, es gestaltet sein Leben gemeinsam, es schaut in die gleiche Richtung. Gleichzeitig führen die Partner, jeder für sich, ein eigenes Leben.

Das ist kurz gefasst die Basis einer gesunden Beziehung, getragen von Liebe, Zuneigung, Verständnis, Respekt und der Achtung der Grenzen des Anderen: Sie ist eine Union zweier Menschen, in der eine ausgeglichene Balance zwischen Nähe und Distanz, Geben und Nehmen herrscht und in der beide sich individuell entfalten können und doch miteinander wachsen.

Viele Beziehungen verlaufen jedoch anders.

Die meisten Menschen werden von zwei großen Lebensängsten begleitet: Zum einen von der Angst vor innerer Isolation und Verlust, zum anderen von der Angst vor der Nähe, dem Verschlungenwerden, dem Ich-Verlust.

Bei manchen Menschen ist eine der beiden Ängste besonders ausgeprägt, bei anderen beide gleichzeitig. So entsteht in vielen Beziehungen oft ein Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch nach Distanz, entweder zwischen zwei Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen in Hinblick auf Nähe und Distanz oder als innerer Konflikt einer der Partner. Beides wird im Verlauf der Beziehung zum alles beherrschenden Thema.

So ist, was für den einen Liebe, Selbstlosigkeit und Aufopferung ist, für den anderen Zwang, Druck und Kontrolle.

Nichts ist erdrückender als eine Liebe, die klammert und einengt. 
Klammernde Liebe ist in Wahrheit keine Liebe. Liebe basiert auf Freiheit, darauf dem anderen sein Sein zu lassen und ihm den Raum zu geben, den er braucht, um sich zu entfalten. Klammernde Liebe ist Selbstzweck, sie ist das Gegenteil, nämlich ein Mangel an Liebe, die im eigenen Ich nicht vorhanden ist und deshalb am anderen festgemacht wird. Der andere wird zum Objekt der eigenen Bedürftigkeit und Befriedigung. Dies basiert auf unbewussten Besitzansprüchen und zeigt sich darin, dass der Partner sein Liebesobjekt vereinnahmt und selbst zum lebenden Schatten des anderen mutiert. Die Folge ist, dass seine Liebe den anderen nicht atmen lässt, er nicht zulassen kann, dass eigene Interessen des Partners auch ohne ihn gelebt werden.

Klammernde Liebe, die in Folge den anderen auffrisst, hat nichts mit Liebe zu tun, sie ist das egoistische Besitzenwollen eines innerlich einsamen, leeren Menschen, der in sich selbst nichts findet, was ihn erfüllt. Dieser Mensch strebt aus mangelnder Selbstliebe, Verlust- und Isolationsangst nach einer symbiotischen Beziehung, in welcher er sich im Paarsein als eine Person empfindet. Er lebt und atmet quasi durch den anderen. Er saugt so dem anderen im wahrsten Sinne des Wortes den Lebensatem aus.

Liebe erdrückt nicht, niemals, wenn es erdrückt, ist es keine Liebe.

Menschen, die den Partner mit übermäßiger Aufmerksamkeit und hohen Erwartungen überschwemmen, ohne dabei die Grenzen und die tatsächlichen Bedürfnisse des Partner zu sehen und so zu wahren, Menschen, deren Gedanken und Wünsche ständig um den Partner oder das Zusammensein mit ihm kreisen, haben kein gesundes Selbstkonzept. Sie fühlen sich, ist der andere abwesend, allein und verlassen, sie verlieren sich in einer inneen Leere, die sie bedroht. Weil sie diese Bedrohung nicht aushalten können, kontrollieren sie den Partner, verfolgen ihn geradezu mit Aufmerksamkeit und drücken ihn auf diese Weise mehr und mehr in eine Zwangspresse. 

Diese klammernde Liebe hat ihre Ursachen in der Kindheit. Wenn ein Kind von seinen Eltern nicht die Aufmerksamkeit und Liebe bekommen hat, die es gebraucht hätte, oder wenn es nicht fähig war zu nehmen, was die Eltern ihm an Liebe zu geben hatten, bleibt es unversöhnt mit seinem Anspruch an  Geborgenheit. Diese Menschen tragen die Wunde des Ungeliebten in sich. Sie versuchen ein Leben lang im Nachhinein, den in der Kindheit erlebten Mangel zu beheben und die Leere, die die gefühlte oder erlebte Lieblosigkeit hinterlassen hat, durch einen anderen Menschen zu füllen. Mach mich voll!, ist ihr tiefstes inneres Bedürfnis.

Diese Aufgabe weist ein "Ungeliebter" unbewusst dem Partner zu. Mach mich glücklich!, ist die weitere Erwartung und „Du musst mich doch lieben, schau, was ich alles für dich tue!“, die nächste.

Das sind unerfüllbare Erwartungen, sagt uns der gesunde Menschenverstand. Das Unterbewusstsein des Verwundeten lässt sich dadurch aber nicht beeindrucken. Wie ein Selbstläufer spult es sein Programm der Bedürftigkeit ab – es erwartet, es will - und zwar immer zu viel.

Unangemessen hohe Erwartungen an eine Beziehung werden zum Problem, denn der Partner kann das in der Kindheit entstandene Loch niemals füllen. Er ist damit schlichtweg überfordert. Zum einen kann keiner den inneren Mangel des anderen ausgleichen und zum anderen hat auch das eigene bedürftige innere Kind Wünsche und will vom anderen etwas haben. Freiraum zum Beispiel. Die Erwartungen der Partner kollidieren also.

Liebe bedingt nicht nur die Balance zwischen Nähe und Distanz sondern auch die Balance zwischen Geben und Nehmen. Der Partner, der den anderen mit seiner Liebe überschwemmt ist in der Regel auch ein Geber. Er gibt über die Maßen mit dem Ziel geliebt zu werden. Aber es ist weitaus mehr: Im Geben fühlt er sich groß und überlegen. Damit kompensiert er sein mangelndes Selbstwertgefühl und seine geringe Selbstliebe.

Er will, indem er ständig gibt, meistens mit der Aussage: ich erwarte nichts, in Wahrheit nichts anderes als die Kontrolle über den anderen. Er will ihn abhängig machen, aus Verlustangst heraus.

Dadurch aber entsteht eine Polarisierung. Der Eine gibt aus dem extremen Bedürfnis nach Geborgenheit und Zusammengehörigkeit heraus über die Maßen viel, der Andere rutscht automatisch in die Position des Nehmers. Das kann sich über alle Bereiche ziehen - finanziell, in Geschenken, in einem ständig für den anderen da sein, emotional oder sexuell.

Jede Geste der Liebe, alle Liebesworte, jedes Kompliment, jede Unterstützung für den anderen wird zur Gabe. Dahinter steckt: „Schau, was ich für dich tue, du musst mich doch lieben!“

Wer nun ständig die dargebotenen Gaben des anderen annimmt, verfängt sich im Käfig der inneren Schuld, die er ausgleichen muss. Er will dem anderen nichts schuldig bleiben, denn alles Geben beinhaltet das Bedürfnis nach Ausgleich, das in jedem Menschen angelegt ist. Ganz gleich ob der Geber sich dessen bewusst ist oder nicht – er will belohnt werden. Und der andere spürt das. Im Nehmen aber wird der Andere klein, bedürftig und schließlich abhängig. Er ist ständig in der Rolle sich bedanken zu müssen, es wieder gut machen zu müssen, zurückzugeben, was er bekommen hat.

Es beginnt ein Teufelskreis: Der Geber weckt beim Partner mehr und mehr Schuldgefühle, um ihn bewusst oder unbewusst gefügig zu machen. Das Schuldgefühl des Partners führt dazu, dass er irgendwann klein beigibt um sich nicht als schlechter Mensch zu fühlen. Er meint die überzogenen Bedürfnisse des anderen nach Geborgenheit und Nähe erfüllen zu müssen. Die Folge ist, dass er dies nicht mehr aus freiem Willen und gern tut, sondern weil er sich dazu gezwungen fühlt. Jedes Geschenk, das ihm gemacht wird, wird zum giftigen Geschenk. Giftige Geschenke aber vergiften jede Beziehung. Sie haben eine zersetzende Wirkung und führen letztendlich dazu, dass sich die Beziehung auflöst.

Was also für den einen hingebungsvolle Liebe und Aufopferung ist, ist für den anderen Vereinnahmung, Zwang und Kontrolle. Er fühlt sich unter einen nicht aushaltbaren Druck gesetzt. Das Fatale an dieser Konstellation ist zudem, dass durch dieses Übermaß an Geben eine Art Eltern-Kind-Beziehung entsteht. Wer will eine erotische Beziehung zu seiner Mutter oder zu seinem Vater? Mit anderen Worten: Die sexuelle Atraktivität des Gebers geht gegen Null.

Energetisch gesehen bedeutet das: Der Strom der Liebe fließt nur in eine Richtung. Aber es ist noch komplizierter: die bedürftige Liebe des Gebers ist eine selbstbezogene. Sie ernährt sich von der Aufmerksamkeit und Liebe des anderen. Sie saugt sie aus dem anderen heraus. Da sie aber nicht zu stillen ist, will sie immer mehr. Sie saugt den anderen am Ende energetisch völlig aus.

Nichts ist schlimmer als eine Liebe, die die Balance verloren hat, nichts ist erstickender und tödlicher als eine Liebe, die klammert, fordert und einengt.

Vereinnahmen hat nichts mit Liebe zu tun, Vereinnahmen wird zum lebenden Schatten eines unerfüllten Selbst, der im wahrsten Sinne des Wortes jedes Gefühl überschattet. Klammernde Liebe ist das narzisstische Bedürfnis eines Menschen, der sich selbst im anderen sucht und lieben will, weil er sich nie geliebt fühlte. Sie ist die narzisstische Schwester der Liebe - das "Haben wollen" eines vermeintlich geliebten Menschen. Ein Fass ohne Boden. Diese Liebe verbrennt sich selbst. Sie erstickt im Keim und verglimmt schließlich zu Asche. Wie ein Feuer braucht die Liebe Luft zum Atmen.

Die traurige Ironie: Wer klammert, wer zuviel gibt, überzogene Besitzansprüche stellt und ständig die Aufmerksamkeit des Partners einfordert, erreicht genau das, was er befürchtet: Er wird verlassen.
Denn wie soll der andere soll er sich noch anders abgrenzen ohne den ewig erwartenden Partner zu verletzen? Wie kann seine Liebe sich entfalten, wenn der Bedürftige ihm das Gefühl gibt, er mache sein ganzes Glück aus?

Nur wenn Nähe und Distanz, Geben und nehmen in der Balance sind schwingt das Band der Liebe.
Zuviel vom einen oder anderen zerreist es.

Wo ist der Weg aus diesem Teufelskreis heraus?

Der Bedürftige sollte sich, wenn er den Partner nicht verlieren will, bewusst werden - ganz egal wonach sein inneres Kind schreit - dass er den anderen nicht pausenlos und in jeder Lebenslage in Anspruch nehmen kann. Dazu hat er kein Recht.

Er sollte sich auf den Weg machen sich selbst spüren zu lernen, sich füllen und lieben zu lernen. Er sollte lernen zu begreifen, dass Liebe da beginnt, wo sie keines anderen bedarf, nämlich in sich selbst. 

Ein erster Schritt in diese Richtung ist, etwas zu finden, was von innen hält, etwas was einem selbst gut tut, eine kreative Beschäftigung oder eine Aufgabe – möglichst eine, die selbstlos ist und nicht wieder den Zweck hat, sich aus der Energie anderer zu nähren. Ein langer Weg, der oft, ohne professionelle Unterstützung, beim besten Willen, nicht gelingt.


Liebe heißt, Wärme auszustrahlen,
ohne einander zu ersticken.
Liebe heißt, Feuer zu sein,
ohne einander zu verbrennen.
Liebe heißt, einander nahe zu sein,
ohne einander zu besitzen.
Liebe heißt, viel voneinander zu halten,
ohne einander festzuhalten.
Phil Bosmans