anna hatte beschlossen sich tot zu stellen.
das telefonkabel aus dem stecker gezogen, das handy ausgeschaltet. ihr e-mails las sie nicht mehr. sie musste wissen, wie es sich anfühlte, das totale sich aus der welt ziehen. sie musste zu sich selbst finden, es drängte sie dazu mit einer macht, wie sie sie noch nie zuvor gefühlt hatte. nicht, dass sie es nicht versucht hätte, es gesucht hätte, dieses selbst, das sie nur ahnte, irgendwie sogar fühlte und dem sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, keine klare konturen geben konnte.
genau um diese klarheit ging es, jetzt oder nie. sie war spät dran. die zeit raste, überholte sie. sie dachte an die zeit als sie jung war und leicht und schön. das leichte war ihr abhanden gekommen, das schöne verblichen. sie hatte ihre zeit gehabt, zeit genug, und doch nicht genug um zu leben, was in ihr war und sich ausdruck suchte, in den dingen, die sie getan hatte und tat. sie lagen vor ihr wie bruchstücke eines fragwürdigen ganzen, das sich auf eine gewisse weise verband aber ohne konturen herumlag wie verstreutes. verstreutes leben, dachte anna. sie spürte das bittere lächeln um ihren mund.
sie lächelte nicht mehr oft. das war ihr aufgefallen. ihre träume waren dunkel, spiegelten ihr nacht für nacht vergangenes, das sie am tag verdrängte. die nacht, dachte anna, bringt die wahrheit ans licht. ihre wahrheit, die unteilbar war mit den wahrheiten der anderen. wozu auch, wen interessierte schon ihre wahrheit. sie war genauso unteilbar wie alles gefühlte.
an diesem morgen war sie allein aufgewacht. auch das gehörte zum totstellen. sie hatte es ihm gesagt, dass sie allein sein musste. alleinsein um ihre einsamkeit nicht mehr in ihm gespiegelt zu sehen, sondern da, wo sie ihren platz hatte, in ihrem inneren. er hatte es akzeptiert, enttäuscht und mit missmutiger, krampfhaft unterdrückter wut, die sie gefühlt hatte, die sie bedrängte wie seine erwartungen, die er nicht aussprechen musste, damit sie sie spürte.
sie hatte längst begriffen, dass sie nichts teilen konnte von dem was wesentlich war, wesentlich für sie. sie hatte das unteilbare zu akzeptieren versucht, was ihr nicht gelungen war. über das anerkennen kam sie nicht hinaus. das musste sie ändern, das mit dem akzeptieren, das über das anerkennen hinaus ging, das verinnerlichen war, ohne reue zu empfinden. ich bereue nichts, sang edith piaf. anna überlegte, ob das auch für sie galt. sie bereute manches, vor allem das, was sie anderen getan hatte und andere ihr, das ungute, das man tat, ohne es zu wollen. aber das nichtwollen machte das antun nicht kleiner.
sie wollte keinem mehr etwas antun und nichts mehr von keinem angetan haben. das ging nur, wenn sie keinem mehr nahe kam. das ging nur, wenn sie allein blieb. ob sie das wollte? auch das würde sie herausfinden im totstellen. eine übung im nicht mehr verfügbar sein, ein vorbereiten auf den verlust und den selbstverlust. vielleicht ging es darum, um ein sich auflösen. aber das hatte sie längst getan, sich aufgelöst im leben, das zu viel gefordert hatte und immer weiter forderte. so viel, dass das andere sich im übermaß in das ihre mischte. in ihr eine trübe flüssigkeit, die eins vom anderen nicht mehr unterscheidbar machte. sie musste sie klären und wusste nicht wie. verschlackte brühe, dachte anna und eine gewaltige wut legte sich zu der trauer es zugelassen zu haben, das vermischen. ihr würde übel.
einmal hatte sie ganz viel wasser getrunken um das trübe aus sich herauszuspülen, geholfen hatte es nichts, nur hilfloser hatte es sie gemacht und noch konturloser innen. das konturlose ist wie das aufgelöste, ein etwas ohne festen umriss, ein bild, das ihr der anblick ihres vergehenden körpers im spiegel zeigte, in den sie nicht mehr zu blicken wagte, weil es sie schmerzte. sie hasste die vergänglichkeit. schon als mädchen hatte sie es nicht ertragen, wenn blumen in der vase verwelkten. sie hatte sie herausgenommen und in den müll geworfen, bevor sie die blätter verloren. das war ein vernichten, ein vernichten dessen, was sie nicht lassen konnte, nicht loslassen konnte.
jetzt würde sie loslassen, loslassen von allem und sich totstellen und im totstellen das leben suchen, das nur ihr gehörte. es war ein untauglicher versuch, sie wusste es, aber irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie es tun musste - trotzdem.
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