Sonntag, 13. Februar 2011

Ganz ...

Vielleicht wirst du mich heilen, sagte der Mann und legte seine Arme fester um die Frau. Heilen, dachte die Frau, das bedeutet etwas ähnliches wie ganz sein, und wie sollte sie etwas ganz machen, wo sie doch selbst zerrissen war. Dieser Gedanke von Ganzsein, der stand schon bei Plato, das mit den Kugelmenschen, die nach ihrer anderen Hälfte streben, seit Zeus sie im Zorn gespalten hatte. Er war alt, uralt, älter als sie.


Die Frau wusste längst, dass keiner den anderen ganz machen konnte, das konnte jeder nur sich selbst machen, ganz, aber es war schön in der Illusion zu leben, dass es anders sei und weniger anstrengend für das Leben, das anstrengend genug war. Das Leben der Frau war anstrengend. Sie war müde und hatte es schon lange satt, hatte aber nicht aufgegeben, weil sie feige war oder stark, oder, weil sie ein Kind hatte, dem sie das nicht antun wollte und irgendwie liebte sie das Leben trotzdem es anstrengend war, also hatte dieses Aufgeben immer ein nicht Aufgeben als Gegenpol und der war stärker. Ob das gut war, darüber hatte die Frau oft nachgedacht und sich dann dafür entschieden es gut sein zu lassen und einfach weiter zu machen, denn sie war ein Mensch und für Menschen stirbt die Hoffnung zuletzt.


Und jetzt war da der Mann, der ihr sagte, dass er sie liebe, sie sei seine Liebe, sagte er immer wieder und das hörte sich gut an und nach Hoffnung und vielleicht nach einem Glück, dem sie als Konzeption zwar misstraute, aber es dennoch empfand in den Stunden, die sie beisammen waren.


War der Mann fort, warf sie seine Abwesenheit umso mehr auf sich selbst zurück. Darüber wunderte sich die Frau, denn sie war es doch so lange gewesen, mit sich selbst allein und hatte es nicht als die große Leere empfunden, die da jetzt war und warum das so war, konnte sie sich nicht erklären, vielleicht weil sie wieder erfahren hatte, dass das Volle sich besser anfühlte. Das Gegenteil von Etwas macht das Etwas unterscheidbarer, so wie man das Gute nur unterscheiden kann, wenn man das Böse kennt, dachte die Frau, aber der Gedanke veränderte das Gefühl nicht.


Vielleicht war sie zu kompliziert, vielleicht dachte sie einfach zu viel nach. Das sagten alle, die sie kannten und weniger nachdachten. Manchmal hatte die Frau sich schlecht gefühlt unter all den anderen, die weniger nachdachten und allein. Auch das war ein Grund für den Rückzug in sich selbst, den sie lange geübt hatte, um jetzt festzustellen, dass diese Übung wohl nichts genützt hatte, vielleicht gab es Dinge, die man nicht üben konnte.


Gehalten in den Armen des Mannes, dachte die Frau über all das nach. Dann sprach sie es aus und der Mann sagte, er kenne das Gefühl innen allein zu sein. Es sei wie ein leeres Zimmer in das man verschwand und dann schließe sich die Tür, die einem von allem trennt. Er sei dort gewesen, immer wieder für eine lange Weile manchmal und dieses Gefühl fühle sich an wie ein Sterben im Leben nur weniger endgültig, denn man lebe ja noch und so lange man lebt fühlt man den Schmerz und das sei nicht Totsein, denn Totsein sei die Abwesenheit von Schmerz. Solange da der Schmerz ist, ist Leben und die Option des anderen, des Nichtschmerzes und das sei Freude und Glück.


Die Frau mache ihn glücklich sagte, der Mann und er glaubte, was er sagte, denn es war so. Die Frau glaubte das auch, denn sie fühlte so und weil sie so fühlte, in den Armen des Mannes, war da die Angst dieses Gefühl wieder zu verlieren.


Angst ist das Gegenteil von Liebe, hatte die Frau irgendwo gelesen. Das hatte sie schon immer bezweifelt, denn sie wusste, dass das Gegenteil von Liebe etwas anderes war, weder die Angst noch der Hass, es war die Gleichgültigkeit.


Die Frau legte die Hände auf das Gesicht des Mannes und sah ihm in die Augen, als suche sie etwas, was sie vor einer Ewigkeit verloren hatte. Der Mann erwiderte ihren Blick, lange. Da wusste die Frau, was sie gesucht hatte, seit sie ein Kind gewesen war, es war das Gefühl, da legt einer liebend die Augen auf sie. In diesem Moment wusste sie, dass es gut war wie es jetzt war und hörte auf nachzudenken.

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