"Wir sind Erinnerung", konstatiert der Harvard Psychologe Daniel L. Schacter in seinem gleichnamigen Werk und beschreibt darin das komplexe Gebiet der Gedächtnisfunktionen des Gehirns. Zudem entschlüsselt er darin die Vielfalt prägender Ereignisse im Leben eines Menschen. Sein Fazit: Erst durch Erinnerung werden wir zu dem, was wir sind und er behauptet weiter, dass das Erinnern zum großen Teil ohne unser Zutun geschieht und unser Handeln bestimmt.
Recht hat er, denn wie wir wissen, ist alles menschliche Handeln zu über neunzig Prozent vom Unterbewussten bestimmt. Nun bin ich keine Hirnforscherin, aber ich denke viel nach, sammle Wissen und baue an meiner eigenen Wahrheit. Und ab und an erinnere ich mich an das, was ich weiß, abgesehen von allem anderen, an das ich mich erinnere oder nicht.
Erinnerung hat mit Zeit zu tun. Je mehr Zeit wir gelebt haben, je älter wir werden, desto mehr blicken wir zurück und erinnern uns.
Kennen wir doch alle, wenn wir der Oma zuhören, oder dem Opa, der zum hundertsten Mal die gleiche Geschichte erzählt, während der Enkel im Jetzt ist und Opa sich durch sein Plappern so gar nicht ablenken lässt, es sei denn Opa bekommt des Enkels Fußball an den Kopf, dass es nur so donnert, dann ist er im Jetzt, aber das auch nur solange der Schmerz die Gedächtnisleistung des Erinnerns unterbricht. Kurzzeitig und dann wird weiter erinnert.
Ich erinnere ich mich an ein Bild von Tizian. Es heißt „Allegorie der Zeit“ und zeigt drei Männer. Einen alten Mann, der zurück blickt, einen Jungen, der nach vorne blickt und einen Mann in der Mitte des Bildes, der sein Gesicht dem Betrachter zuwendet.
Die Kunst und das ist das Wunderbare an der bildenden Kunst, drückt ohne viel Worte aus, was ist. Ach, ich wäre lieber Malerin, aber ich male schlechter als ich schreibe, also schreibe ich besser weiter.
Tizians Bild zeigt uns ohne Worte die Vergangenheit, die Zukunft und die Gegenwart und wie das ist mit der Erinnerung, die umso mehr Raum in unserem Leben einnimmt, je älter wir werden. Die Alten schauen zurück, wenn sie denn das Glück haben, nicht durch eine Demenz oder Alzheimerkrankheit diese Fähigkeit zu verlieren, andererseits, blicke ich so auf meine Vergangenheit, denke ich, so ein kleines bisschen Demenz, wäre gar nicht schlecht.
Wir leben in der Erinnerung und diese hängt mit der Zeitlichkeit zusammen. Zeitlichkeit, das wusste schon Heidegger, zu lesen in seinem Werk „Sein und Zeit“, ist die zutiefst das Menschsein prägende Wirklichkeit. Heidegger versteht unsere ganze menschliche Existenz als faktisches Schon-sein-in-der-Welt, das durch seine Ausrichtung auf die Zukunft, im Ergreifen der eigenen Möglichkeiten sein eigenes Sein bestimmt. Das Ende alles Ergreifens von Möglichkeiten stellt für Heidegger der Tod dar. Angesichts des Todes ergibt sich für den Menschen ein endlicher Entscheidungsspielraum. Damit hat er Recht, nicht aber mit der Annahme, dass wir unsere "In- der -Welt - sein Möglichkeiten" alle bestimmen.
Nun, nur weil Heidegger etwas meint, er hat nämlich auch nur seine Wahrheit, muss ich das ja auch glauben, vor allem das mit dem Bestimmen meines eigenen Seins.
Ich erinnere mich gut an Geschehnisse in meinem Leben, wo ich rein gar nichts bestimmen konnte und es einfach „geschah". Eine Erinnerung, die ich liebend gern vergessen will. Geht aber nicht, weil sie eingebrannt ist, in mein Gedächtnis, in irgendeins von den vielen, die wir haben - das autobiografische oder das episodische oder das sequenzielle Langzeitgedächtnis zum Beispiel. Da hausen sie, die Erinnerungen und kratzen an der Gegenwart und bestimmen so einen wesentlichen Teil, wie ich die Gegenwart wahrnehme, lebe und konstruiere. Pardon, verehrter Herr Heidegger, so einfach ist das leider nicht mit dem freien Selbstentwurf.
Der Mensch entwirft sich nicht aus dem Nichts.
Im Streben nach Gewissheit bei allem Wissen und allen Wahrheiten, sucht er durch die Erforschung der biologischen Grundlagen des Erinnerns die Bedingungen seiner Existenz zu ergründen. Für den Lebensvollzug wichtiger als die genaue Kenntnis der Verschaltung von Nervenzellen im Gehirn ist es, wie wir mit dem Erinnerten umgehen und was wir, bewusst oder unbewusst, dem Vergessen anheim fallen lassen. Beim Unbewussten hapert es dann schon wieder, denn auf das haben wir nun mal überhaupt keinen Einfluss. Frei nach Honoré de Balzac: „Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.“ funktioniert das auch nicht, denn eingebrannt ist eingebrannt und verbrannt ist die damit Möglichkeit Erinnerung willkürlich zu löschen.
„Vergiss!", was ich so oft höre, macht mich daher genauso wütend, wie der Spruch: „Du brauchst keine Angst zu haben!“ Ich habe manchmal Angst und dass ich sie nicht zu brauchen habe, leuchtet mir in dem Moment wo ich sie habe überhaupt nicht ein, denn ich spüre ja, dass sie da ist und denke sie mir nicht, denn wenn ich sie mir nur denken würde, könnte ich sie ja wegdenken und das weiß jeder, der die Angst kennt, wegdenken geht gar nicht. Angst ist nämlich ein Gefühl und Erinnerung ist auch ein Gefühltes.
Erinnerung ist gefühlte Wiederbegegnung.
Unsere Erinnerungen sind meist multimedial: Sie enthalten bildhafte Elemente und Szenen, die wie ein Film ablaufen, Geräusche und Klangfarben, oft auch Gerüche und vor allem: Gefühle. Das ist wissenschaftlich bewiesen.
Egal, ob sie altersbedingt geschönt, bewusst verfälscht oder ob der Mantel der Zeit als Notbehelf über ein Trauma gehängt wird: Erinnerung hat eine gefühlt reflexive Struktur. Erlebtes taucht wieder als Bild auf, trifft auf sich selbst und wird bei dieser Wiederbegegnung bearbeitet. Also kann sie daher mit den zwischenzeitlich neu gemachten Erfahrungen neu bewertet und damit auch für das Gegenwartsempfinden verändert werden. Das nennt man Reframing. Dauert aber unendlich viele Therapiestunden und eine höchst intensive Beschäftigung mit uns selbst.
Eine besonders häufige Form der Vergangenheitsbewältigung ist die „geriatrische“ Variante.
Das kennen wir alle, dieses - früher war alles besser, die Welt, die Jugend, die Politiker. Was ist das für eine Haltung und wohin führt sie? In den Selbstbetrug, sage ich, aber auch der sei erlaubt, denn erlaubt ist, was das Leben schöner macht, oder nicht? Ich möchte nur anmerken, dass Selbstbetrug auf Dauer nicht funktioniert, das ist wie mit der Lüge, irgendwann bricht sie heraus und dann steht der Lügner da und fühlt sich ertappt und sieht dabei gar nicht gut aus, weder vor den anderen, noch vor sich selbst.
Manche Lebenslügen machen sogar krank, weil die Seele sich auf Dauer nicht gern bescheissen lässt.
Ach ja, dieser rosa verfärbte Blick zurück. Manche Menschen haben die Gabe das Erinnerte zu schönen um den Schmerz zu verbannen. Ob ich die jetzt beneiden soll? Da mir Neid fremd ist, freue ich mich für sie und lasse es gut sein.
"Die Wahrheit des Erinnerns ist das Vergessen."
Nietzsches Philosophie des im Augenblick Seins, hilft mir auch nicht weiter, denn ich weiß ja, das geht bei mir nicht mit dem Vergessen, ich habe sie nun mal meine Erinnerungen, die schönen und die hässlichen und sie machen mich, und das ist das Gute an ihnen, zu der, die ich bin.
Ach, was weiß ich ...
Eins aber weiß ich ziemlich genau: Man vergisst, was einen nicht interessiert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen