Donnerstag, 7. Juli 2022

Aus der Praxis: Dir selbst vertrauen

 



"Ich habe diesem Menschen vertraut. Heute weiß ich, er hat mich manipuliert, meine Wahrnehmung verdreht, mich belogen und betrogen. Er hat mich hergeholt, wenn er mich brauchte und wegegestoßen, wenn er mich nicht brauchen konnte. Er hat mir immer wieder Versprechungen gemacht und sie nicht gehalten. Und wissen sie was? Die ganze Zeit war da diese leise Stimme in mir, die mich warnte: Pass auf, da stimmt etwas nicht.
Ich habe sie nicht hören wollen. Ich habe meiner Intuition nicht vertraut. Ich habe sie ignoriert, ich habe immer wieder versucht, das Gute in diesem Menschen zu sehen. Ich wollte vertrauen, weil es mir gefällt zu vertrauen. Aber jetzt habe ich endgültig begriffen, dass ich mir die ganze Zeit selbst Schaden zugefügt habe. Ich werde keinem mehr vertrauen können. Und das ist das Schlimmste."
 
Meine Klientin ist verzweifelt.
Nicht nur weil ihre Beziehung beendet ist, nicht nur, weil sie einen Verlust zu bewältigen hat, sie ist verzweifelt, weil sie an sich selbst zweifelt. Sie hat sich selbst nicht vertraut und sich wider besseres Fühlen, immer wieder Sand in die Augen streuen lassen. 
 
Solche Erfahrungen kennen viele von uns. Sie können unser Selbstwertgefühl und unser Selbstvertrauen erschüttern. Sie können dazu führen, dass wir uns von den Menschen zurückziehen und uns sozial isolieren. Sie können dazu führen, dass wir verbittern, dass wir einsam werden und keinen mehr an uns heranlassen. Sie können dazu führen, dass wir den Glauben an die Liebe verlieren. 
 
Wie konnten wir so einen Fehler machen? 
Über Jahre vielleicht. Wie konnten wir nur so blöd sein?
Es gibt viele Gründe, warum wir das konnten.
Vielleicht haben wir Verlustangst, vielleicht haben wir Angst vor dem Alleinsein, vielleicht haben wir Angst, nie mehr einen Partner zu finden, wenn wir die Beziehung verlassen.
Vielleicht haben wir Angst, das Leben allein nicht meistern zu können.
Vielleicht haben wir Angst, ohne Partner nichts wert zu sei.
Vielleicht haben wir uns schlecht behandeln lassen, weil unser inneres Gesetz lautet: „Du bist nicht gut genug. Also hast du nichts Besseres verdient.“
Vielleicht hat sich die Beziehung wie die beschissene Heimat unserer Kindheit angefühlt, beschissen, aber so vertraut, das wir glaubten, wir seien zuhause angekommen.
Vielleicht haben wir einfach nicht glauben können, dass der andere Mensch nur seinen eigenen Vorteil suchte und es ihm niemals um uns ging.
Vielleicht haben wir nicht glauben wollen, wie berechnend und gefühlskalt ein Mensch sein kann, weil wir so nicht sind, weil wir mit reinem Herzen geliebt haben und das Beste wollten.
Vielleicht haben wir gehofft, wenn wir nur genug lieben, genug verstehen, genug verzeihen, wird man uns dafür lieb haben.
Vielleicht haben wir das Unheilsame in Kauf genommen, weil es da auch schöne Momente gab und haben sie ganz groß werden lassen, nur um das Gefühl zu haben, geliebt zu sein.
Vielleicht erhalten wir aber nie eine Antwort.
Solche unbeantworteten Fragen können uns jahrelang beschäftigen. Sie können Tag für Tag auf Neue an uns nagen und uns innerlich zerfressen. 
 
Die entscheidende Frage aber ist: Kann ich mir je wieder selbst vertrauen, wenn ich so gutgläubig war, wenn ich die Signale, die Zeichen und meine Intuition überhört, übersehen, überfühlt habe? 
 
Ja, wir können. Wenn wir das wollen.
Ich glaube, wir müssen bestimmte Erfahrungen machen, um wichtige Lektionen zu lernen, die wir ohne unsere Fehler nie gelernt hätten. Wir dürfen das Vertrauen in uns selbst nicht von den unheilsamen Erfahrungen unserer Vergangenheit abhängig machen. Wir dürfen nicht zulassen, dass ein Fehler über unser Jetzt und unsere Zukunft bestimmt. Wir sind aufgerufen zu ergründen, warum wir uns selbst nicht vertrauen, warum wir uns selbst Schaden zufügen, warum wir nicht den Mut haben, auf unsere Intuition zu hören und ihr zu vertrauen.
Wir lernen mit jedem unserer Fehler. Durch unsere Fehler können wir wachsen
Wir treffen in Zukunft eine andere Wahl.
Wir hören auf uns selbst, egal wie viel Sand man uns in die Augen streut. Wir sind hellwach, wir beobachten uns selbst und achten auf das, was wir fühlen und wir nehmen unsere Gefühle ernst – wir nehmen uns ernst.
Wir sagen uns: Okay, es tut weh, aber ich musste diesen Fehler machen, um genau das daraus zu lernen: Mir selbst vertrauen.

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