Mittwoch, 30. Juni 2021

Lektionen

 

                                                                        Foto: A.W.


Gerade wenn wir denken – so ist es gut, so kann es bleiben, kommt sie plötzlich, die nächste Lektion. Nicht schon wieder, denken wir und haben überhaupt keine Lust darauf. Wir haben doch genug gelernt über uns, das Leben, andere. Wir haben doch jahrelang an uns selbst gearbeitet. Irgendwann müssten wir doch mal Ruhe haben.
Denken wir. Ist aber nicht so. Lektionen, immer wieder Lektionen. Immer wieder gibt es etwas zu lernen. Einige Lektionen verbergen sich hinter Problemen, die gelöst werden müssen. Andere sind normales Beiwerk des Lebens, zum Beispiel, dass wir älter oder krank werden.Und manche Lektionen erschüttern unser Menschenbild.
 
Gestern sagte ein Klient, der einen schmerzhaften Betrug erfahren musste: „Ich habe immer geglaubt, dass Menschen von Grund auf gut sind.“ Sein Menschenbild ist erschüttert, weil ihm Ungutes durch einen geliebten Menschen widerfahren ist.
Er zweifelt an sich selbst, fragt sich, ob er zu naiv war. Zu gutmütig, zu gutgläubig, zu vertrauensselig. Was ist meine Lektion?, fragt er mich. Soll ich jetzt keinem mehr vertrauen, weil ich verletzt werden könnte?
 
Ein gebrochenes Herz reagiert oft so: Ich werde nie mehr lieben, nie mehr vertrauen. Und das ist am Anfang verständlich. Es will zumachen, um nicht mehr verletzt zu werden. Das Leid, wenn uns ein geliebter ein Mensch betrogen hat, ist unermesslich groß. Es stürzt uns nicht nur in eine schmerzhafte Trauerphase, die dauern kann, es stürzt uns auch in die Konfrontation mit unseren Annahmen über das Leben, die Menschen und unser Selbstbild.
Warum ist mir das passiert? Warum hat der andere mir das angetan? Warum war ich so blind?
 
Wir haben Schuldgefühle, glauben wir hätten es verhindern können, wenn wir achtsamer gewesen wäre, besser aufgepasst hätten oder weniger vertraut hätten.
Schuldgefühle sind mit Abstand das Schlimmste. Sie lähmen. Über den Schmerz der Verletzung hinaus peinigen sie uns. Wie ein Quälgeist besetzen sie unsere Gedanken und hindern uns anzuerkennen was ist – nämlich, dass wir immer dann, wenn wir einem Menschen unser Herz öffnen und schenken im selben Moment riskieren verletzt zu werden. Und oft geschieht genau das.
Es hilft nichts, sich dann die Schuld zu geben. 
 
Schuldgefühle gegen oft so weit, dass wir denken: Du hast es nicht verdient, geliebt zu werden. Du hast es nicht verdient, glücklich zu sein. Ja, sie können sogar soweit gehen, dass wir denken: Du hast es nicht verdient, zu leben. Schuldgefühle sind gemein und tückisch, sie sind voller Vorwürfe und niederschmetternd. Aber auch unsere Schuldgefühle sind Lektionen, die wir lernen dürfen. 
 
Wenn wir genau zuhören, was sie uns einreden, lernen wir viel über unser Selbstbild. Wir erfahren, was wir über uns selbst denken. Wie mies wir über uns denken. So mies, dass wir glauben, wir allein sind schuld daran, dass andere nicht gut zu uns sind oder dass uns das Leben immer wieder Schmerz beschert oder dass wir, wie mein Klient denkt – so naiv sind an das Gute im Menschen glauben.
 
Wenn wir uns mit den Botschaften unserer Schuldgefühle auseinandersetzen werden wir erkennen, was wir in Bezug auf unsere Annahmen über uns selbst und andere hinterfragen und korrigieren können. Sie können uns helfen zu erkennen, was wirklich ist - nämlich, dass das Leben und Menschen, ja auch wir selbst, nicht berechenbar sind und nicht nur gut oder nur böse. Es ist immer beides. Wo das eine ist, ist immer das andere darin enthalten.
Schuldgefühle sind auch eine Abwehrreaktion– wir wehren ab, was wir nicht akzeptieren und annehmen können. Wenn wir uns die Schuld geben, können wir glauben – WIR hätten die Lektion verhindern können, hätten wir anders gedacht oder uns anders verhalten. So müssen wir uns unsere Ohnmacht nicht eingestehen. Aber das dürfen wir, wir sind auch ohnmächtig. Und es ist okay. 
 
Auch das ist eine Lektion die in den Schuldgefühlen verborgen liegt: Wir dürfen lernen unsere Ohnmacht anzunehmen, wir dürfen lernen anzuerkennen: Wir haben keine Macht über andere Menschen. Menschen können uns verletzen. Aber wenn wir uns daran die Schuld geben, verletzen wir uns selbst noch mehr. Wir behandeln uns weiter, so wie wir behandelt wurden. Und das nicht zu tun, das liegt in unserer Macht.
Wenn diese Lektion hinter uns liegt, dürfen wir sie nicht vergessen. Wie werden sie brauchen, wenn die nächste kommt.

2 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diesen Artikel und Ihre wunderbaren Worte, einfühlsamen Erklärungen und die treffende Beschreibung eines Zustandes, für den man selber keine Worte findet. Danke. Veronika

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