Samstag, 19. Juni 2021

Das kleine Monster im Zentrum der Stille

 

                                                                    Foto: A.W.


"Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille nennt?", schreibt Georg Büchner in seiner Novelle Lenz
Die Stille, die manche Menschen bewusst suchen und vor der die meisten Leute beständig fliehen, ist nicht still. In Wahrheit ist sie sogar sehr laut. Wer die Stille einmal wirklich gesucht und erfahren hat, weiß das. So wie es Büchner seinen Jakob Lenz sagen lässt, kann sie herausschreien, was wir im lauten Alltag nicht hören können oder hören wollen.
 
In der Stille drängt das Wesen der Dinge nach Gehörtwerden.
Alles Verdrängte kommt zum Vorschein. Nicht wenige Menschen fürchten sich genau davor, denn die Stille konfrontiert uns mit unserer eigenen Wahrheit. Alles Verdrängte, das ganze „ungelebte“ Leben kommt zum Vorschein. Was wir in der Ablenkung der lauten Welt versenkt haben, all das Abgespaltene, steigt in der Stille aus den eigenen Tiefen hoch ins Bewusstsein und konfrontiert uns gnadenlos mit uns selbst. Welch ein Unbehagen das auslösen kann, weiß jeder, der sich einmal der kompletten Stille geöffnet hat.
Stille und die damit verbundene innere Einkehr ist für viele Menschen deshalb so beängstigend, weil sie dann mit sich selbst in Kontakt treten müssen. Das ist mitunter eine beängstigende und bewegende Reise hinab in die Abgründe der Seele. Und weil diese Reise auch mit unguten Gefühlen verbunden ist, wird sie tunlichst vermieden.
In einer Welt, in der das Streben nach dem scheinbaren Glück des Habens zum Maßstab aller Dinge geworden, ist Selbstreflexion ein gefährliches Unterfangen, denn sie könnte aufdecken, dass wir uns im Zweifel etwas vormachen. Die Wahrheit ist anstrengend und sie kann erschreckend sein, denn sie entlarvt alle Lebenslügen. 
 
Still geworden können wir nicht mehr weghören, wir sind gezwungen uns zuzuhören, uns uns selbst zuzumuten.
Still geworden stehen wir unseren Träumen und Wünschen gegenüber, die uns fragen: Hast du uns verwirklicht, oder hast du uns längst vergessen und damit dich selbst und den Kern, der dich ausmacht? Wofür hast du uns aufgegeben? War und ist es das wert? Wem oder was bist du hinterhergerannt und hast dich selbst verraten und die Werte, die dir doch einmal so wichtig waren? Was hast du idealisiert, was es nicht wert war und welchen Illusionen hast du dich hingegeben? Welche Identität hast du angenommen, um jemand zu sein, der du nicht bist, um der Anerkennung, des Geldes, der Macht und des Erfolges willen? Wem oder was schenkst du deine kostbare Lebenszeit? Wer bist du, wenn alles andere wegfällt? Was ist es dann, was dich von Innen hält? Hast du vor lauter Erleben wollen das Leben selbst vergessen?
Oh nein, die Stille ist wahrlich nicht leise. In ihrem Zentrum taucht ein kleines schreiendes Monster auf und konfrontiert uns mit unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart, unserer Zukunft und unserer Endlichkeit. Ich mag das kleine Monster. Es macht einen guten Job. Es taucht auf, damit wir uns selbst erkennen, uns neu entdecken und an Echtheit, an Klarheit, an Mut und an Stärke gewinnen. Es taucht auf, damit wir erkennen, was wir wirklich wollen, solange wir es noch können.

3 Kommentare:

  1. Liebe Angelika, ein Beitrag, den ich auf meine aktuelle Situation anwenden kann. Es gab eine Phase, in der ich von meinen jahrzehntelang verdrängten "negativen" Gefühlen überflutet worden bin. Das war eine ziemlich traumatisierende Erfahrung und ging einher mit fast totalem Kontrollverlust und u.a. schlimmen Panikattacken. Ich denke, dass mein System sich bis heute nicht wirklich davon erholt hat. Dann kam ein Abschnitt, wo es mich scheinbar stark in die Stille gezogen hat. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken und konnte nach einer gewissen Zeit auch wieder Hoffnung schöpfen. Leider (für mich) hat sich mein Leben nicht so weiterentwickelt, dass ich sagen kann, ich sei zufrieden und hätte "es im Griff". Ich habe das Gefühl, dass ich mir über immer mehr Aspekte meines Lebens bewusst werde und leider kommen da auch Dinge zum Vorschein, die irreversibel sind und gerade das nimmt mir die Hoffnung, jemals ein körperlich und vor allem seelisch gesundes Leben erfahren zu können. Damit einher gehen destruktive, autoaggressive, vielleicht sogar sado-masochistische Tendenzen. Und wenn ich mir dessen bewusst werde, angesichts dessen wie ich als kleiner Junge mal war, das ist schon eine äußerst belastende Erlebnisweise, die unter anderem dazu geführt hat, dass ich fast jeden Tag Panikattacken erlebe, eine Kardiophobie entwickelt habe, scheinbar auch eine Trichotillomanie (Körperbehaarung ausreißen) und noch einiges mehr. Wenn ich heute in die Stille gehe (und das tue ich ziemlich viel), halte ich es nicht mehr so lange auf der Parkbank aus. So viele (Todes)Ängste, Schuld(angst)gefühle, Schamgefühle, Wut und Selbsthass....
    Traurig, dass ein Leben so eine Entwicklung nehmen kann und es scheinbar keinen Ausweg aus der Misere gibt..

    Nico

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  2. Lieber NIco,

    ich bin mir sicher, es gibt einen anderen Weg, einen Ausweg aus der Misere. Auch wenn das alles nicht weg geht, weil es sehr viel ist, man kann lernen damit besser zu leben. Wenn da aber Resignation ist, ist es schwer sich in Bewegung zu setzen. Du brauchst Hilfe. Und ich hoffe, du suchst sie Dir!

    Es gibt gute Therapeuten und gute Kliniken.
    Suchen, ausprobieren,und vor allem: nicht aufgeben.

    Alles Liebe und Gute Dir!

    Angelika

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