Freitag, 25. Juni 2021

Aus der Praxis – Trauma und die unbewusste Übertragung in Beziehungen

 

                                                                    Malerei: A.Wende

 

Übertragung: Wir verwechseln die andere Person oder Geschehnisse aus dem intersubjektiven Feld mit früheren Erfahrungen, Ängsten, Vorlieben, Abneigungen, Personen. Wir aktivieren in uns einen alten Film, statt das Einzigartige und Neue wirklich wahrzunehmen.

 

Björn Migge

 

 

Der Begriff der Übertragung stammt von Sigmund Freud. Wenn wir in der Psychologie von Übertragung sprechen, ist damit gemeint, dass eine unbewusste Erinnerung und die damit verbundenen Emotionen auf eine aktuelle Beziehung übertragen werden. Mittels Übertragung werden verdrängte Gefühle, Impulse, Erwartungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ängste aus der Kindheit unbewusst auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen und reaktiviert. 

 

Man unterscheidet zwischen positiver und negativer Übertragung. 

Bei der positiven Übertragung werden positive Aspekte früherer Beziehungen wie Zuneigung,  Vertrauen und Liebe übertragen, bei der negativen Übertragung unheilsame Aspekte wie etwa Abneigung, Wut, Schmerz und Misstrauen.

 

Es gibt kein gegenwärtiges Erleben ohne die Verbindung zu unseren Erinnerungen.

Traumatisierende Erlebnisse vergisst unser Gehirn nicht. Dazu gehören besonders auch unsere frühen Beziehungserfahrungen. So sind auch unsere Beziehungserfahrungen „gespeicherte Erinnerung“. Diese ist im limbischen System, dem emotionalen Gedächtnis, fest verankert. Alle unheilsamen Beziehungserfahrungen und Beziehungsmuster aus unserer Vergangenheit werden daher unbewusst in die Gegenwart übertragen.

 

„Bei einer Übertragung geht es um die Neuinszenierung der Erinnerung unter veränderten äußeren Bedingungen, um einen Vorgang, der unbewusst abläuft und sich ständig wiederholt.“ (Barwinski, 2010).

 

Man muss sich das so vorstellen: Die Übertragung verbindet das Erleben im Jetzt wie eine Brücke mit dem Erlebten unserer Vergangenheit.  

Das Wissen um das Phänomen der Übertragung ist nicht nur in Beziehungen, sondern vor allem im therapeutischen Kontext wichtig um die emotionale Distanz zu behalten und sich als Therapeut durch die unangemessenen negativen Übertragungen des Klienten nicht irritieren oder provozieren zu lassen indem man sich unreflektiert der Gegenübertragung aussetzt, sondern sogar bewusst die Funktion der Übertragungsfigur einnimmt und behutsam damit umzugehen weiß. Dazu muss man wissen, dass jede negative Übertragung immer auch ein unbewusster Versuch der Manipulation ist, mit dem Ziel, das Gegenüber zu einer Reaktion zu bringen, die zu einer unbewussten Erinnerung des Klienten gehört und ihm vertraut ist. 

 

Nach Freud reinszenieren Übertragungen eine unbewältigte Erfahrung der Vergangenheit und führen zur Wiederholung derselben im Jetzt, indem das Gegenüber zum Vertreter einer negativ besetzten Figur gemacht wird.  

Das Gegenüber wird quasi zum Stellvertreter, der all jene unterdrückten und abgespaltenen Emotionen und Impulse abbekommt, die der Figur aus der Vergangenheit nicht zugemutet wurden, aus Angst zurückgewiesen zu werden, nicht wahrgenommen zu werden, bestraft zu werden oder aus Angst vor Liebesverlust und Verlassenseins. Auch Aggressionen, die gegenüber der Figur nicht ausagiert werden konnten werden später unbewusst auf  den Stellvertreter übertragen. Das gilt ebenso für Gefühle wie Scham und Schuld.

 

Bei vielen Beziehungskonflikten handelt es sich also in Wahrheit nicht um ein aktuelles Problem oder einen Konflikt mit dem anderen im Jetzt, sondern um die unbewusste Wiederholung einer unverarbeiteten traumatischen Erfahrung, mit dem Versuch diese zu lösen, indem man sie neu inszeniert und auf die Ersatzfigur projiziert.  

Projektive Übertragung verzerrt jedoch die Wahrnehmung der Gegenwart, so dass das aktuelle Erleben und die damit verbundene Beziehung zum Gegenüber in der Gegenwart negativ gedeutet und bewertet wird.

 

Mit negativen Übertragungen angemessen umzugehen ist schwierig.  Es braucht viel Erfahrung und Gleichmut vom Therapeuten um damit angemessen umzugehen und sie so in den therapeutischen Prozess zu integrieren, dass sie für den Klienten hilfreich sind. Für C. Jung bestand der Kern des Übertragungsphänomens darin, die Beziehung zum Selbst zu finden. Das Aufdecken und die Bewusstmachung von Übertragungsvorgängen wird insbesondere in der Psychoanalyse als zentrales Element für den Erfolg der Therapie angesehen. Der Klient soll in der Person des Therapeuten einen Menschen sehen, mit dem er vertrauensvoll und ohne die Angst vor Sanktionen, Konflikte aus der Vergangenheit in der Gegenwart löst. Dazu nimmt der Therapeut bewusst die Rolle einer Figur aus der Vergangenheit ein. So wird durch das Quasi-Vorhandensein diese Figur bewusst gemacht und der Konflikt kann über die Auseinandersetzung mit dem Therapeuten gelöst werden. Alte Wahrnehmungen und Gefühle werden dabei auf den Therapeuten übertragen um nach Möglichkeiten zu suchen auf angemessene Weise im Jetzt damit umzugehen. 

 

Schwierig sind negative Übertragungen allerdings dann, wenn sie vom Klienten nicht als solche erkannt werden, er sie nicht als solche erkennen kann oder sich weigert sie zu erkennen und Inhalt und Kausalität für seine Reaktionen ausschließlich dem Gegenüber im Jetzt zuordnet.   

Hier befindet sich der Übertragende in einer Trance, die ihn sogartig nach Hinten zieht und das Vergangene als Realität im Jetzt empfinden lässt.

Was passiert dabei genau?

Der Übertragende ist er selbst, steckt ber emotional in einer früheren Phase seines Lebens fest - meist in der Identifikation mit dem traumatisierten Kind. Was es noch komplizierter macht, wenn er sich mit mehreren abgespalteten Kindanteilen identifiziert.

Das Gegenüber wird verzerrt wahrgenommen. Es ist nicht es selbst im Jetzt, sondern es wird als innere Figur mit deren Objekteigenschaften wahrgenommen. So wird beispielsweise der Partner oder der Therapeut zum Stellvertreter für das traumatisierte Kind, während der, der überträgt, unbewusst in die Rolle der oder der Figuren schlüpft, die dem Kind Schlimmes angetan haben und das jetzt dem Stellvertreter ähnliches antut. Es kommt zu einer Umkehr der Rollen. Der Stellvertreter soll mittels der Übertragung mit dem Trauma klarkommen, weil es dem Übertragenden selbst nicht gelingt. Diese Umkehr der Rollen gehört u.a. zur Trauma-Abwehr.

 

Diese Art der inneren Abwehr fordert ständig eine Reinszenierung des Unverarbeiteten, im (Irr)Glauben es auf diese Weise endlich lösen zu können, weil (noch) keine anderen Bewältigungsmechanismen verfügbar sind.  

Die Wiederholung verhindert jedoch, dass das Erlebte in übergeordneten Hirnstrukturen wie Hippocampus und Frontalhirn weiterverarbeitet, neu bewertet und eingeordnet werden kann.

Das Trauma wird nicht integriert. Es wird weiter abgespalten. 

 

Ein Trauma überwinden  ist schwer und dauert mitunter jahrelang, denn jedes traumatische Erlebnis, je intensiver und bedrohlicher es erlebt wird, überfordert die Fähigkeit unseres Gehirns zur Integration und wird, um es überhaupt ertragen zu können, abgewehrt – durch Abspaltung, Dissoziation und die emotionale Trennung vom Gefühlserleben - und dieses zeigt sich auch im Phänomen der negativen Übertragung.

 

Voraussetzung zur heilsamen Integration ist nach erfolgter Stabilisierung und Ressourcenaktivierung der Betroffenen, auch die Bereitschaft zur Konfrontation mit den schmerzhaften Gefühlen, welche aber, wie gesagt, bei manchen Betroffenen als so unaushaltbar empfunden und bewertet werden und deshalb durch Abwehr vermieden werden, indem, im Falle der negativen Übertragung, das Gegenüber emotional angegriffen und erschüttert werden soll: „Der Andere soll fühlen, was ich damals gefühlt habe.“

Hurt people, hurt people.

Das geschieht in der Regel jedoch meist unbewusst.

 

Nun ist das aber keine Lösung und schon gar keine Erlösung.

Seelische Weiterentwicklung und posttraumatisches Wachstum können so nicht stattfinden. Bleibt der Betroffene im Muster der negativen Übertragung stecken, sprich - lässt er sich diese nicht bewusst machen, ist der innere Widerstand zu groß -  wird jede Beziehungserfahrung in der Gegenwart mit erheblichen Problemen und Spannungen belastet sein. Das kann letztlich sogar im worst case eine gesunde Beziehungsfähigkeit unmöglich machen.

 

Die Trance zurück in die ursprüngliche kindliche Interpretation des Traumas und die nicht auflösbare Identifikation mit dem verletzten inneren Kind verhindern eine heilsame Interpretationsmöglichkeit in der Gegenwart.

Der Erwachsene von heute bleibt in der Vergangenheit des Inneren Kindes oder der inneren Kinder stecken und damit mit den alten Verletzungen identifiziert. Damit das nicht geschieht ist eine gelingende Integration verdrängter Gefühle und verdrängter Persönlichkeitsanteile heilsam. Deshalb ist es auch so wichtig negative Übertragungen im Rahmen der Traumabewältigung zu erkennen, sie bewusst zu machen und sie im Sinne des Betroffenen für seine Genesung zu nutzen.

Traumata können integriert werden, wenn die Inneren Kinder von damals gesehen, angenommen und gerettet werden, wenn sie in Sicherheit gebracht werden von einem stabilen Erwachsenen, der sich seiner Identifikationen bewusst ist und sie aufgelöst hat. 

Dieser Prozess erfolgt allerdings sehr langsam und es bedarf viel Geduld. Und das ist wichtig und richtig um die verletze, fragile Seele nicht zu überfordern. 

 

 

 

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