werde, der du bist. dieser satz von nietzsche ging anna seit wochen nicht aus dem kopf.das setzte vorraus, dass sie wusste wer sie war. das verlangte sicherheit ob ihrer selbst, tief drinnen, ein tiefes inneres wissen um ihr sein, setzte das vorraus.
einmal, es war lange her, fast zwanzig jahre, da hatte sie dieses gefühl gehabt, zu wissen wer sie war. ihr leben war gut gewesen. sie hatte erfolg im beruf, den sie liebte, ein gesundes fröhliches kind, ein schönes zuhause und ihre leidenschaft das malen. alles war leicht. das schwere ließ sich auf der woge der sicherheit leicht mitbewegen. das schwere, die leise melancholie, die sie schon immer umfing wie ein zarter grauer schleier. angesehen hatte man es ihr nicht, sie war eine strahlende erscheinung gewesen, immer lächelnd, immer funktionierend wie ihr leben.
damals, sie erinnerte sich an diesem grauen morgen, an dem sie an ihrem schreibtisch saß wie jeden morgen um ihre ersten gedanken nach dem aufwachen in ihr tagebuch zu schreiben, damals hatte es diesen moment gegeben wo sie dachte: jetzt könnte ich sterben, ich habe gelebt.
sie hatte diesen gedanken mit sich herumgetragen wie diesen gegenwärtigen über das werden, der sie war. und weil er so groß in ihr gewesen war hatte sie ihn aussprechen müssen. sie hatte ihn ausgesprochen und es allen gesagt, die es hören wollten oder nicht: jetzt könnte ich sterben, ich habe gelebt.
anna lächelte. wie hochmütig sie doch gewesen war, wie sehr von sich selbst und dem funktionieren ihres lebens beeindruckt. so beeindruckt, dass sie nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was ihre kleine tochter bei dem gedanken der mutter, die ihre bereitwilligkeit zu sterben vor sich selbst ernst nahm, gefühlt hätte. hochmut, eine todsünde, ein laster, das keinem gut anstand, dachte anna. sie schüttelte den kopf und nahm einen schluck kaffee aus der großen blauen tasse. sie drehte die tasse in ihren schmalen händen, deren haut dünn geworden war. carpe diem, nutze den tag, stand da in einer altmodischen schnörkeligen schrift.
anna lächelte. hatte sie das getan, damals, hatte das den ausschlag gegeben für dieses ich kann jetzt sterben, ich habe gelebt. war es das gewesen, ihre fähigkeit den tag zu nutzen, ohne einen gedanken an das gestern, das morgen? sie hatte es vergessen. anna neigte dazu zu vergessen, was sie vergessen wollte.
carpe diem und werde, der du bist. zwei gedanken, die in ihrem kopf tanzten, deren schritte ihr verstand zu folgen suchte und es nicht vermochte. das herz, dachte anna, das herz will da nicht mit, warum auch immer.
ich brauche ruhe, dachte sie und wusste wie schwer es war die ruhe zu finden, die sie so sehr brauchte. sie musste leben, man hatte sie nicht sterben lassen damals. leben bedeutete, sie musste raus ins leben, raus um dinge zu tun, die sie leben ließen, geld verdienen.
damals hatte sie viel geld gehabt, es floß ohne dass es sie große anstrengung kostete. du bist ein sonntagskind, hatte die mutter zu ihr gesagt, mit einem neidischen gesicht, so als sei es eine laune der natur, die an ihr selbst vorbeigegangen war und kein verdienst, den sie ihrer tocher zuschrieb. anna, das sonntagskind, dem das glück in den schoß fiel wie dem sterntalermädchen im märchen die goldenen taler.
dann hatte es aufgehört das sonntagskindgoldenetalerleben. mit einem schlag hatte es aufgehört, so unvermittelt, dass anna es erst nicht fassen konnte und alles war anders geworden. so anders, wie es anders nicht hätte kommen können. das andere kam nicht schleichend, es kam schlag auf schlag. kaum, dass sie versuchte sich von einem schlag zu erholen, hieb der nächste auf sie ein.
anna stellte die tasse auf die scheibtischunterlage. carpe diem. auch diese tage hatte sie genutzt, wenn überleben nutzen ist, dann hatte sie sie genutzt. in all diesen tagen, die da gewesen waren, in den schweren langen jahren, die den guten langen jahren gefolgt waren, hatte sie nie mehr an das gedacht, was sie einst gesagt hatte, diesen satz vom sterben. sie hatte ihn vergessen im kämpfen ums überleben.
der carpe diem gedanke legte sich zu dem werde, der du bist gedanken. anna fragte sich, was beide gedanken miteinander zu tun hatten. sie fragte sich: was, wenn sie damals wirklich gestorben wäre? wäre sie als die gestorben, die sie war? eine hochmütige, leicht melancholische frau und mutter, der das leben goldene taler beschert hatte? das leben hatte das nicht für sie gewollt, oder gott oder das universum. das leben hatte ihr etwas anderes gezeigt, sie auf einen anderen weg geführt. ich bin gestorben, schoß es ihr in den kopf, mitten im leben gestorben.
in diesem sterben war sie eine andere geworden. sie hatte die andere seite der taler gesehen, sie hatte gekämpft für das leben, das sie damals so leichtfertig hatte wegwerfen wollen, gekämpft für das leben ihrer tochter, das genauso schwer geworden war wie ihr eigenes. sie hatten es überlebt das schwere. und das schwere hatte sie verändert, anna und ihre tochter.
werde, der du bist, dachte anna und sie wusste, wer sie auch war. sie wusste, dass sie die, die sie war mit allem was sie ausmachte war, jetzt in diesem moment in der zeit und sie wusste, dass sie die, die sie jetzt auch war, auch bleiben würde und sie wusste, dass sie, wenn das leben, oder gott, oder das universum es vorhatten, wieder auch eine andere werden würde, so lange sie lebte.
anna schloß ihr tagebuch und während sie es tat, langsam, fast wie eine rituelle handlung, war da nur noch ein gedanke in ihrem kopf: carpe diem.
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