Montag, 28. November 2011

TAUSEND UND EINE NACHT

lisa wischt sich das make-up vom gesicht. manchmal verändert sich alles, ohne dass man einfluss darauf hat. sie seufzte. sie würde alles verändern. altes mit neuen tauschen, die stadt verlassen, das haus, den alltag, den sie gewohnt war. nächste woche würde sie in der neuen wohnung sein.

die wimperntusche, die sie mit einem wattebausch von den augen rieb, hinterließ schwarze ränder. das sah traurig aus. es ist mein wirkliches gesicht, dachte sie. sie wischte die schwarze tusche mit reinigungsmilch weg. sie hatte um einen termin beim sendeleiter gebeten. sie würde ihm sagen, dass sie nicht mehr zur verfügung stand. sie hatte sich entschieden. sie fragte sich, ob es die richtige entscheidung war. seit ben im internat war, hatte sie sich mit der entscheidung herumgequält. sie ertrug den gedanken nicht, ihn nur noch in den ferien zu sehen.

ben hatte in das internat gewollt. gesagt, er wolle nicht mehr mit ihr allein leben, er wolle andere kinder um sich herum haben. lisa nahm ein handtuch um die letzten spuren des make-ups zu entfernen. sie hatte ihr gesicht lange genug in die kamera gehalten. es war die richtige zeit um zu gehen.


du musst ihn loslassen, hatte ihre freundin gesagt, er ist vierzehn. er wird erwachsen. lisa konnte nicht loslassen. in der nacht träumte sie vom fallen. sie hatte für ben gelebt, er war das leben, um das sie das ihre herumgebaut hatte. sie hoffte, dass es ihm gut ging. er schrieb selten, noch seltener rief er an. alles gut, mum, sagte er dann. ben redete nicht über gefühle.

es gab nur ihn, seit ihre ehe gescheitert war. sie hatte ben. einen mann hatte sie nicht mehr gewollt. jetzt hatte er den platz an ihrer seite verlassen. keine warme kinderhand, in die sie ihre hand legen konnte. kein kleiner körper, der am morgen schlaftrunken in ihr bett kroch, sich an sie drückte mit einem: mama ich hab dich lieb. sie nahm die zahnbürste und schrubbte die zähne bis das zahnfleisch blutete. es tat weh.

ihre freundin hatte gesagt, die kinder hat man nur geliehen, sie gehören sich selbst. sie hatte gesagt, ben sei noch klein, er brauche sie. mama, ich schaff das, hatte ben gesagt, als sie seine koffer im zimmer des internats abgestellt hatte. draussen vor dem tor hatte sie geweint. sie gewöhnte sich nicht an das leere haus. der fußball lag seit wochen an der gleichen stelle im garten. manchmal saß sie am fenster und sah ihn stundenlang an. am ende sah sie nur noch ein schwarzes loch.

mit kreisenden bewegungen verteilte sie tagescreme über ihr gesicht. ich habe falten, dachte sie. sie zog den mantel über und verließ den sender.


wie fast jeden abend stand er vor dem taxi und rauchte. sie fuhr taxi. sie hatte keinen führerschein. sein taxi war sauber. es roch nach leder, rasierwasser und tabak. er war perser. eigentlich war er bauingenieur. einmal, als sie im feierabendverkehr im stau standen, hatten sie sich unterhalten. er sagte, er habe kein glück gehabt, keine stelle gefunden in deutschland. sie wollten hier keine ausländer, die aus politischen gründen ihr land verlasssen haben.

er lächelte sie an und hielt ihr die beifahrertür auf. lisa spürte, dass er sie mochte. sie wusste nicht, ob sie ihn mochte.

sie schloss die wagentür und schnallte sich an. seine hände strichen über das lenkrad. lisa dachte, dass er schöne hände hatte.
es war kein zufall, dass er sie heute heimfuhr. lisa wusste, dass es keinen zufall gab, nur etwas das einem zufiel. manchmal waren es menschen, die einem zufielen.

er machte den motor an und fuhr los. warum sind sie immer so traurig? fragte er sie und schaltete er das autoradio an. gut, dachte sie, das erspart mir die antwort. haben sie schon mal persisch gegessen?, er lächelte wieder. ich würde sie gern einladen, das heißt, falls sie mit einem taxifahrer ausgehen. lisa überlegte kurz und nickte.

vor dem restaurant bot er ihr eine zigarette an. rauchen sie, das beruhigt. man zieht an der zigarette, verinnerlicht etwas, verbindet sich mit etwas, man ist weniger allein. es ist nicht gut allein zu sein. lisa nahm die zigarette. er gab ihr feuer. seine finger berührten die ihren. es fühlte sich gut an. sie rauchten schweigend. als sie zu ende geraucht hatten, gingen sie in das restaurant.

er bestellte hammelfleisch und reis. das fleisch war zäh und der reis trocken. sie tranken schwarztee. er erzählte von seinem dorf am persischen golf, von seinem glauben, dem er abgeschworen hatte. ich glaube an die menschen, sagte er. lisa sagte, dass sie an nichts mehr glaubte, schon gar nicht an die menschen. sie sind traurig, sagte er, da verliert man manchmal den glauben, oder man glaubt, ihn verloren zu haben.
sein weißes hemd überstrahlte das schummrige licht. seine haut schien noch dunkler. sein haar glänzte nachtblau. seine augen strahlten unter den langen wimpern. er erinnerte sie an eine figur aus den märchen von tausendundeinenacht.

ich werde die stadt verlassen, sagte sie, und dass sie zu ben wollte, in seine nähe, um für ihn da zu sein. sie wollen nicht für ihn da sein, sie wollen, dass er für sie da ist, sagte er. sie schüttelte den kopf, was wissen sie über mein wollen. sie wollte gehen.

meine frau ist vor einigen jahren mit meiner tochter verschwunden, sagte er. ich habe sie lange gesucht. ich habe sie bis heute nicht gefunden. leila ist jetzt acht. ich suche sie nicht mehr. sie wird mich suchen, wenn sie alt genug ist. geben sie ben und sich eine chance.

ihr magen verkrampfte sich. sie stand auf und ging zur toilette. im spiegel blickte sie in ein verbittertes gesicht.
als sie zurückkam lag die rechnung auf dem tisch. sie haben nur ein leben, denken sie daran. lisa lächelte schwach. sie werden es begreifen irgendwann, sagte er, wir sind uns ähnlich. lisa wollte niemandem ähnlich sein. ich muss nach hause sagte sie. er nickte und rief den kellner.

die nachtluft war mild. es war still. ihre schritte machten ein klackerndes geräusch auf dem kopfsteinplaster. einen moment lang dachte sie, dass sie schon lange nicht mehr neben einem mann eine straße entlang gegangen war.

er öffnete die wagentür der beifahrerseite und ließ sie einsteigen. geht es ihnen gut? fragte er. ich bin müde, sagte sie.

vor ihrem haus stellte er den motor ab. es ist nicht gut allein zu sein. nehmen sie eine zigarette mit. lisa schüttelte den kopf. er würde an seinen taxistand fahren und auf fahrgäste warten. sie würde die tür öffnen und das einzige geräusch dahinter würde die stille sein. sie stieg aus. machen sie es gut, rief er ihr nach.

sie ging die paar schritte zum haus, schloss die tür auf, hängte den mantel an die garderobe und ging in bens zimmer. zärtlich strich sie über die hellblauen laken und legte ihren kopf auf das kissen. sie dachte an die geschichten, die sie ben vorgelesen hatte, abend für abend, tausend und eine nacht.