Montag, 30. Dezember 2024

Langstreckenläufer

 



„Ich bin eine einsame Läuferin. Aber eine Langstreckenläuferin.“
Das sagte die Bildhauerin Louise Bourgeois anlässlich ihrer Ausstellung 2005 in der Kunsthalle Wien. Eine Schau zum Spätwerk der damals 94-Jährigen. Jahrzehntelang musste sie auf eine Anerkennung als Künstlerin warten. Sie hat nie aufgegeben. Sie hat immer getan, was sie tun musste und wollte – sie hat ihre Kunst gemacht. Heute gilt sie als teuerste Künstlerin der Welt.
Louise Bourgeois fasziniert mich unter anderem genau deshalb, weil sie eine Langstreckenläuferin war, weil sie, die ein Leben lang voller Selbstzweifel war und unter einer fundamentalen Angst litt, niemals aufgegeben hat. Sie fasziniert mich ebenso wie Frida Kahlo, die ein Leben lang unter Schmerzen litt und unter diesem unsäglichen Diego Rivera und niemals aufgegeben hat, sich selbst nicht, ihre Liebe zum Leben nicht und ihre Kunst nicht. Viva la Vida!
 
Diese Frauen faszinieren mich. Sie sind für mich wie ein Nordstern, wenn ich spüre, dass ich schwächle. Beide sind Langstreckenläuferinnen. Ich bin eine Langstreckenläuferin. Viele von uns sind das. Im Grunde sind wir das alle. 
 
Wenn ich das alte Jahr Revue passieren lasse, denke ich, ohne dieses Langstreckenläufertum, hätte ich vielleicht aufgegeben. Es war ein schweres Jahr. Ich habe eine große Erschütterung erlebt, die mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Ich bin weitergelaufen. Für mich und für die Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Für das, woran ich glaube, für das, was ich in die Welt geben will, solange Gott es mich tun lässt, für all das, was es wert ist zu leben. Und das ist viel.
Da ist so viel was das Leben lebenswert macht, trotz Erschütterungen, trotz Krisen, trotz dem unseligen Zustand dieser Welt. Da ist so viel, was entdeckt, erfahren, erlebt und gestaltet werden will und da ist Sinn in der scheinbaren Sinnlosigkeit all des Unheilsamen. Wir erkennen ihn, in allem, wenn wir dazu bereit sind. Sinn entfaltet sich und gestaltet sich im Laufe der Strecke, wenn wir lange genug gehen. 
 
Lauft gut ins neue Jahr!

Freitag, 27. Dezember 2024

Zwischenzeit

 

                                                               Foto: A.Wende

 
Zwischen den Jahren, das ist die Zeit nach den Weihnachtsfeiertagen und den wenigen Tagen vor Neujahr, die Zeit in der der Festtagstrubel sich beruhigt, in der wir entschleunigen und runterkommen können – Zeit für Ruhe und Selbstreflexion. Diese Zwischenzeit ist eine gute Zeit zur Rückschau auf das alte Jahr. Wir halten inne und reflektieren, was war, in diesen dreihundertfünfundsechzig Tagen gelebten Lebens.
 
Ich mache in dieser Zwischenzeit immer eine Rückschau um das alte Jahr noch einmal zu betrachten, um es im Ganzen klar zu erfassen. Ich nehme mein Tagebuch und schreibe auf, was mich in diesem Jahr beschäftigt hat, welche Lektionen ich lernen durfte, was ich lösen konnte und was nicht. Ich überlege, was ich loslassen will, weil es sich überlebt hat, nicht hilfreich oder sogar belastend ist, und was ich ins neue Jahr mitnehmen will. Ich besinne mich auf die Begegnungen, die ich hatte, die alten und die neuen, wie sie mein Leben bereichert haben oder auch nicht. Ich mache mir bewusst, was ich gelernt habe und was ich noch immer nicht gelernt habe und lernen will. Ich frage mich, was ich verwirklicht habe, an Aufgaben und Herausforderungen, die ich mir selbst gestellt habe. Ich mache mir bewusst, was mich getragen hat, was mich ermutigt hat und was mir half kleine und größere Krisen und Verluste zu bewältigen. Ich mache mir bewusst, wer für mich da war und wer nicht, auf wen ich mich verlassen konnte und auf wen nicht. Ich besinne mich auf alles, was mir Kraft gegeben hat und was mir Freude geschenkt hat. Ich mache mir bewusst, wo ich für andere da war und wo ich anderen helfen und sie unterstützen konnte.
Ich entscheide, was ich nicht mehr von mir selbst erwarten will, was ich nicht mehr von anderen erwarten will und welche Erwartungen ich nicht mehr erfüllen will.
Ich frage mich, ob ich gut für mich selbst gesorgt habe, wo ich mich selbst überfordert habe, was mich an meine Grenzen gebracht hat und was mir besonders gut gelungen ist und beschließe mehr davon zu tun.
 
Und dann, und das ist das Wichtigste für mich, schreibe ich alles auf wofür ich dankbar bin. All das, was mir das Leben an Gutem, Wahren und Schönem in diesen dreihundertfünfundsechzig Tagen geschenkt hat. Das ist eine Menge, auch wenn es ein schweres Jahr für mich war. Es gab so viel Gutes, so viele Menschen, die mich begleitet und unterstützt haben und mein Leben mit ihrem Dasein und ihrer Liebe bereichert haben. Und wieder wird mir klar: Was wirklich zählt, ist die Liebe. 
 
 
„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte;
wenn ich alle Glaubenskraft besäße
und Berge damit versetzen könnte,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich nichts.“
Das Hohelied der Liebe (1 Kor 13)
 
 

 

Montag, 23. Dezember 2024

Vertrauen

 

                                                            Foto: Lucas Wende
 
 
„O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit …
Christ ist erschienen, uns zu versühnen … „
 
Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens, das Fest der Versöhnung und der Harmonie unter den Menschen, eine Zeit der Besinnung, eine Zeit des Beisammenseins mit unseren Nächsten, eine Zeit des Gebens und des Feierns in der Heiligen Nacht. Weihnachten, die Zeit im Jahr, in der Werte wie Liebe und Nächstenliebe hochgehalten werden.
Und am Himmel leuchtet hell der Stern von Bethlehem als Symbol der Hoffnung, des Trostes und des Sieges des Lichts über die Dunkelheit, alle Jahre wieder.
 
Man kann von Weihnachten halten, was man will, aber diese Zeit macht etwas mit jedem von uns, und da ist nicht immer pure Freude und all die anderen schönen Gefühle, die mit diesem Fest assoziiert werden. Da kommt vieles hoch, was wir das ganze Jahr über verdrängt haben, da ploppt all das Unheilsame auf, das wir mit uns herumschleppen, da wird die Trauer groß über die Verluste, die wir erlitten haben, über die Wünsche, die sich nicht erfüllt haben und die Erwartungen an das Jahr, die unerfüllt blieben, an das Schwere, das wir zu tragen und zu bewältigen haben und da wird die Erinnerung ganz groß an all das Unversöhnliche in uns selbst und denen gegenüber, die uns gekränkt, verletzt und uns Ungutes zugefügt haben.
Nein, so fröhlich ist es nicht, dieses Weihnachten, für viele von uns nicht.
 
„Christ ist erschienen, uns zu versühnen … „
Heißt es in dem alten Weihnachtslied. Wir hören es und denken, schön wäre es, wenn Jesus das in uns bewirken könnte, aber er kann es nicht für uns bewirken, er kann uns nur daran erinnern, wir selbst müssen es tun, uns versöhnen mit dem alten Jahr und dem, was es uns an Unheilsamen beschert hat, am besten vor der Bescherung.
Uns mit dem, was ungut war, versöhnen und das Vertrauen wieder aufbauen, das uns abhanden gekommen ist – in andere, aber vor allem in uns selbst. Vertrauen, das angeknackst oder zerstört wurde, ist schwer zu reparieren. Aber die Arbeit, die wir tun um es wiederzufinden - das Vertrauen in das Leben und die Überzeugung, dass dieses Leben es im Grunde gut mit uns meint, auch wenn es uns bisweilen Ungutes beschert, macht Sinn.
 
Wer weiß wozu es gut ist? 
 
Vertrauen in das Gute, trotzdem, gegen alle inneren und äußeren Widerstände, das wäre gut, würden wir es können.Vertrauen ist ein fundamentaler Bestandteil jeder menschlichen Beziehung, auch der Beziehung zu uns selbst.
Es ist gut, wenn wir uns selbst vertrauen können.
Vertrauen in dieser Zeit, in der so vieles, an was wir glaubten, das uns Halt gab, zerbröselt ist, ist noch besser als Hoffnung, denn für das Vertrauen können wir aktiv etwas tun, indem wir zuallererst, egal was war, weiter oder wieder uns selbst vertrauen.
Vertrauen beginnt zuallererst bei uns selbst.
Uns selbst vertrauen bedeutet an uns selbst zu glauben, unsere Fähigkeiten und Gaben wertzuschätzen, zu uns selbst zu stehen, egal was andere sagen, auf unsere eigene innere Wahrheit zu vertrauen, ihr zu folgen, für sie einzustehen und nach ihr zu leben. Uns selbst vertrauen bedeutet auch uns zutrauen, dass wir bewältigen, womit das Leben uns konfrontiert und herausfordert. Selbstvertrauen kann viel dazu beitragen Frieden, Harmonie, Liebe und Trost zu finden – in uns selbst.
Selbstvertrauen ist für mich ein inneres Licht, das über die Dunkelheit siegt.
Knipsen wir unser inneres Licht an und schenken uns selbst Vertrauen an diesem Weihnachten, denn nur was in uns selbst lebendig ist, können wir in die Welt geben. 
Diese Welt hat jedes kleine Licht bitter nötig. 
 
"Am Ende des Tages können wir viel mehr ertragen, als wir denken."
Frida Kahlo 
 
Gesegnetes Fest!

Namasté
 

Samstag, 21. Dezember 2024

Wichteln

 

                                                                     Foto: A.Wende

 
Gestern auf meinem Spaziergang durch die Stadt ist mir dieser Weihnachtswichtel begegnet. 
Irgendwie sieht er traurig aus, dachte ich und ob das eine Eigenart von Wichteln ist. Sie haben ja auch eine schweren Auftrag, sie sollen für Magie unter den Menschen sorgen. Und schwere Aufträge können mit der Zeit traurig machen, wenn sie nicht gelingen.
Ich habe zuhause gegoogelt, was die genaue Bedeutung eines Wichtels ist. Google meint: „Ein Wichtel ist eine zauberhafte skandinavische Tradition für die ganze Familie. Er ist ein kleines Helferlein vom Weihnachtsmann oder vom Christkind, der in der Vorweihnachtszeit Magie versprühen und für Freude, gemeinsame Erinnerungen und eine unvergessliche Familienzeit sorgen soll.“
Gar nicht so leicht, ist doch so viel Unheilsames in der Welt. Freude sehe ich da immer weniger, auch wenn es allerorten Weihnachtslieder dudelt, Lichterpracht, die von Menschenmassen überfüllten Straßen schmückt und die Weihnachtsmärkte süßen Glühweinduft und andere herrlich duftende weihnachtliche Gerüche verbreitet. 
 
Stille Zeit, heilige Zeit – wenig davon. 
Jedenfalls nicht in den Straßen. Hetze, anrempeln, grimmige oder vom Alkohol rote Gesichter, laute Stimmen und über allem ein Gefühl von – ich weiß nicht, jedenfalls nicht Freude.
Empfinde nur ich das so, habe ich mich gefragt, projiziere ich da was?
Ich mag die Weihnachtszeit, ich freue mich auf die Weinachtstage, da fahre ich endlich wieder nach Berlin und sehe meine kleine Familie wieder. Ich mag die Bräuche und schönen Dinge, die es nur in der Weihnachtszeit gibt. Es ist eine besondere Zeit, auch wenn das Jahr schwer war und ich ziemlich auf dem Zahnfleisch gehe. Ich glaube so geht es vielen Menschen. Sie sind erschöpft. Ich spüre die Energie eines tiefen emotionalen und mentalen Ausgebranntseins. 
 
Irgendwann kann der Resilenteste nicht mehr.
Irgendwann ist der Motivierteste am schwächeln. Irgendwann wollen wir nur noch unsere Ruhe haben vor all dem Unheilsamen um uns herum und in uns selbst, nach all den Jahren der Stapelkrisen, die hinter uns liegen und kein Ende nehmen. Wir erschöpft und zugleich wissen wir, es muss sich etwas Wesentliches im Bewusstsein von uns Menschen ändern.
Aber, was wir ändern können beginnt immer bei uns selbst. Wir können niemanden ändern, schon gar nicht den Zustand der Welt, nur uns selbst. Und das ist schon schwer genug.
 
„Ich arbeite jeden Tag an mir. Und ich renne im Außen so oft gegen Mauern“, sagte gestern ein Klient zu mir. All die Menschen, die zu mir kommen, kommen weil sie eine hohe Veränderungsmotivation haben. Aber sie spüren auch, dass die Kompetenz um diese Veränderung zu erreichen, schwer stabil zu halten ist. Aus oben genannten Gründen, denn niemand von uns ist eine Insel.
Das Draußen macht etwas mit uns. Egal wie sehr wir uns abschotten, fürsorglich zu uns und unsere Lieben sind – das Außen dringt ins Innere.
Wie sich davor schützen? Schwer.
Den Fokus abziehen von all den Grausamkeiten und dem Elend dieser Welt? Schwer.
Wie sind nicht aus Stein. Wir sind fühlende Wesen, das macht uns aus und weil wir das sind, fühlen wir die unheilsame Energie da draußen.
Uns dauerhaft abgrenzen ist schwer.
 
Alle Menschen mit denen ich in den letzten Wochen gesprochen habe, sind am Ende dieses Jahres müde oder sogar krank. Nur wenige fühlen sich voller Energie und Lebensfreude. Da ist so viel Traurigkeit, so viel Unsicherheit, so viel Überforderung, so viel Ohnmachtsgefühle, so viel Wut und da ist viel Angst, vor einer ungewissen Zukunft, die alles andere als hell leuchtet wie der Stern von Bethlehem in der Heiligen Nacht.
 
Die Angst ernst zu nehmen ist klug, denn Angst ist, solange sie nicht krankhaft und lebensbehindernd ist, ein existenzielles Warnsystem, das uns Menschen innewohnt. Sie warnt uns davor uns nicht verschlucken zu lassen von all dem Unheilsamen, das sich mehr und mehr ausbreitet. Deshalb ist es so wichtig, dass wir auf uns Acht geben, so gut wir das vermögen, und dass wir mehr und mehr zum Besseren verändern, was uns und anderen schadet, was immer das für den Einzelnen bedeutet.
Es gibt viel dunkle Energie in dieser Zeit, die nicht einmal die Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen erhellen kann. Was wir tun können, was jeder einzelne Mensch tun kann ist, sein inneres Licht nicht verlöschen lassen. Wir brauchen das Licht als Gegengewicht gegen das Dunkle. Wir können etwas verändern, da bin ich mir sicher. Denn wir sind Teile des Ganzen. Wir haben die Kompetenz es zu tun, wenn wir das wirklich wollen. 
 
Was den Wichtel angeht, meint Google: „Um einen Wichtel anzulocken, musst du einfach eine Wichteltür vor die Haustür stellen. Somit wissen die Wichtel, dass sie erwünscht sind und einziehen dürfen.“ Und weil ich bisweilen zum Romantiseren neige, stelle ich mir gerade vor, dass vor den Türen aller Menschen in dieser Welt eine Wichteltür steht.
 
Gesegnete Weihnachten Ihr Lieben. 
 

Donnerstag, 12. Dezember 2024

Hunger

                                                                        Foto: pixybay

"Die Gefahr liegt nicht darin, dass die Seele bezweifelt, dass sie Brot haben kann, sondern darin, dass sie sich selbst überzeugt, keinen Hunger zu haben", schreibt die Philosophin Simone Weil. Ein wahrer, ein trauriger, ein bitterer, ein alarmierender Satz. 

Viele Menschen reden sich ein, dass sie keinen Hunger haben, dass das Leben eben ist wie es ist, hart, ein Kampf, lieblos, wenn sie nach all den Verletzungen der Unliebe ihr Herz verschlossen haben. All die gescheiterten Beziehungen, die unheilsamen Erfahrungen in der Liebe von Kindesbeinen an und später im weiteren Leben, führen dazu, dass wir irgendwann glauben, Liebe nicht verdient zu haben. Eine lange Zeit bleibt die Sehnsucht danach, aber irgendwann macht die Seele dicht und wir reden uns ein alleine besser dran zu sein. Wir wollen nicht mehr scheitern, wir wollen nicht mehr bedürftig sein, denn damit ist das Scheitern doch vorprogrammiert. Wir wollen nicht mehr an den Enttäuschungen der Liebe leiden. Wir reden uns ein ohne eine Liebesbeziehung besser dran zu sein, wenn auch nicht gut. Um uns zu schützen, kappen wir die Verbindung zum eigenen Herzen und damit kappen wir die Verbindung zu anderen Herzen. Wir sind singuläre Menschen, die mehr und mehr beziehungsunwillig werden, weil wir, wie die Erfahrung zeigt, doch beziehungsunfähig sind. Wir verlieren den Glauben an die erotische Liebe oder wir werden spirituell und wenden uns der allumfassenden Liebe zu, Agape, die uneigennützige Liebe zum All-eins, nur nicht exklusiv zu der oder dem einen. Womit wir aber auf dem Holzweg sind, denn die allumfassende Liebe schließt alles ein, auch Liebesbeziehungen.

Ich kann nicht alles lieben, wenn ich eine Form der Liebe ausschließe. Ich kann nicht alles lieben, wenn ich die Selbstliebe ausschließe.

Wenn wir, wie Weil schreibt, unsere Seele davon überzeugen, keinen Hunger mehr zu haben, verhungern wir. Aber Hunger geht nicht weg, weil wir das wollen. Hunger ist ein Gefühl im Bauch, das durch Nahrungsentzug verursacht wird und mit dem starken Verlangen nach etwas zu essen einhergeht.
Essen wir nicht, verhungern wir.
Lieben wir nicht, verhungert die Seele.
Die Welt ist voll von nach Liebe hungrigen Seelen, die nebeneinander her leben und sich gegenseitig nicht nähren können. Nicht einmal uns selbst können wir nähren, wenn wir die Liebe aus unserem Leben verbannen, weil wir glauben ihrer nicht würdig zu sein, weil wir Angst davor haben wieder verletzt zu werden oder weil wir glauben nicht liebenswert zu sein.
Wir könnten wieder lernen zu lieben und unser Herz zu öffnen, zunächst für uns selbst. Die Selbstliebe öffnet das Herz für alle anderen Wesen.

Dienstag, 10. Dezember 2024

Nur für heute

                                                                  Foto: A.Wende
 

„Nur für heute.“
Dieser Satz stammt aus dem Dekalog der Gelassenheit, der Papst Johannes XXIII. zugeschrieben wird und der auch zum Programm der Anonymen Alkoholiker gehört: Nur für heute - werde ich nichts trinken.
Was für ein einfach klingender Satz.
Und doch ist es schwer in diesem Bewusstsein zu leben.
Nur für heute impliziert, uns nur auf den heutigen Tag zu fokussieren. Nur dem Aufmerksamkeit zu schenken, was heute zu tun ist, was heute wichtig und wesentlich ist, nur zu tun und zu erledigen was heute getan werden kann und was heute machbar ist. Nur die Probleme zu lösen, die heute gelöst werden können.
Nur für heute bedeutet: achtsam im Hier und Jetzt an diesen einen Tag zu sein. Nicht mit der Vergangenheit und nicht mit der Zukunft beschäftig sein.
Im Heute sein.
Nur für heute bewusst auf diesen Tag achten. 
 
Wie oft sind wir nicht im Heute, sondern irgendwo anders.
Auch ich vergesse diesen Satz, besonders dann, wenn ich verunsichert, traurig oder ängstlich bin. Dann bin ich mit meinen Gedanken irgendwo, nur nicht im Jetzt. Ich denke an das, was war, was hätte sein können oder ich beschäftige mich mit der Zukunft und verliere den Tag aus den Augen. Ich nehme ihn gar nicht wirklich wahr. Ich übersehe Dinge und sehe vieles nicht, was da ist, weil ich mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft beschäftigt bin. In meinem Kopf ist ein Affengeschnatter, ich versuche Lösungen für morgen zu finden, ohne zu wissen, was morgen sein wird. Ich kreiere gedanklich Szenenarien, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe, ob sie eintreten werden. Ich mache Pläne und bin überall, nur nicht da, wo ich bin – im Jetzt, im Heute, anstatt mich bewusst zu fragen:
Was ist Jetzt?
Was ist heute da?
Was ist heute wichtig?
Welches Problem kann ich heute lösen?
Wie kann ich mein Heute gestalten?
Was kann ich dafür tun, damit heute ein gelingender Tag ist?
Worauf möchte ich heute achten?
 
Besonders in schwierigen Zeiten ist es hilfreich und erleichternd nur für heute zu leben. Und ja, es ist schwer. Auch ich muss mich immer wieder an diesen Satz aus dem Dekalog der Gelassenheit erinnern, um nicht aus dem Jetzt wegzudriften.
Damit mir das leichter fällt, steht der Satz auf eine Karte auf meinem Schreibtisch.
Nur für heute.
Es ist einen Versuch wert.
Immer wieder. Jeden Tag. 
 
 
"Das Dharma der Weisheit, zu dem wir erwachen können, ist die Wahrheit, die genau dort ist, wo wir sind - wenn wir uns von unseren Fantasien und Erinnerungen lösen und uns auf die Wirklichkeit der Gegenwart einlassen."
 
Jack Kornfield

Montag, 9. Dezember 2024

Niemandsland

 

                                                            Foto: pixybay
 


Niemandsland
 
Das Land in dem du bist, nachdem du dich von allem verabschiedet hast, was unheilsam in deinem Leben war.
Das Land, in dem du bist, wenn du Menschen, die dir nicht gut tun, schädliche Gewohnheiten und selbstschädigende Muster losgelassen hast.
Das Land in dem du bist, seit du klare Grenzen gesetzt hast.
Das Land in dem du bist, nachdem alles Vertraute sich aufgelöst hat.
Das Land, in dem sich Leere und Einsamkeit ausbreitet.
Das Alte ist vorbei und das Neue noch nicht sichtbar.
 
Wie geht es weiter?, fragst du dich.
Du weißt es nicht.
Noch weißt du es nicht.
Es macht nichts, wenn du gerade nicht weißt, wohin es geht.
Im Niemandsland beginnt der Prozess der Wandlung.
Es ist das Land, in dem es mehr dich selbst und weniger die anderen gibt.
Es ist das Land, in dem du zu dir findest, dich neu erfindest, dich ausprobierst, experimentierst, mutiger und leichter wirst.
Es ist das Land, in dem dein Selbstvertrauen, dein innerer Frieden und deine Selbstliebe wachsen.
 
Du hast alles Notwendige getan.
Du hast den Weg geebnet.
Hab Geduld.
Das Niemandsland ist die heilsame Phase des Übergangs in das Neue.
Du musst nichts mit Macht vorantreiben.
Nimm den Druck raus.
Lass dir Zeit.
Vertraue in dich selbst.
Was dir entspricht, was zu dir gehört, wird zu dir kommen. 
 
„Don't Push the River it Flows by Itself“
Barry Stevens

Samstag, 7. Dezember 2024

Alle Jahre wieder - Einsam an Weihnachten

 

                                                         Foto: A.Wende

 

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. 

Weihnachten naht und die Medien reproduzieren am laufenden Band idealisierte Bilder von Gemütlichkeit und Besinnlichkeit, von leuchtenden Kinderaugen und glücklichen Familien unter dem prachtvoll leuchtenden Weihnachtsbaum. Harmonie und Seligkeit pur, das ist das Bild von Weihnachten, das sich in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt hat. Dieses idealisierte Bild von Weihnachten wird uns bereits in der Kindheit suggeriert, die Realität sieht bei der Mehrzahl der Menschen anders aus, aber das blenden viele aus. 

 

In den Geschäften, im Radio und auf den Weihnachtsmärkten dudelt Weihnachtsmusik in Dauerschleife. „Oh du fröhliche“, nicht für jeden, oder Have yourself a merry little Christmas“, oder auch das nicht, dann nämlich, wenn Menschen an Weihnachten klar wird, wie allein oder wie einsam sie sind. Und das sind viele.

Laut einer Umfrage verbringen jährlich etwa 2,4 Millionen Menschen in Deutschland das Fest der Liebe alleine. Manche freiwillig, manche unfreiwillig. Manche haben damit kein Problem, andere leiden besonders an den Weihnachtsfeiertagen unter Gefühlen der Einsamkeit. Während anderswo Familien oder Paare ihr Weihnachtsfest vorbereiten packt sie schon im Vorfeld der Weihnachtsblues. Je näher das Fest der Liebe rückt, desto schmerzhafter wird der Gedanke, dass sie allein sein werden, ohne Liebe.

Weihnachten ist ein Fest, das emotional völlig überladen ist. Das liegt, wie gesagt, unter anderem daran, dass uns das idealisierte Bild von Weihnachten bereits in unserer Kindheit suggeriert wird.   

Dabei war das Weihnachten der Kindheit für manche von uns oft alles andere als selig und fröhlich. Ich höre in meinen Sitzungen mit Menschen vieles über deren Kindheit und auch über deren Weihnachten in der Kindheit. Und vieles ist alles andere als selig, fröhlich und voller Liebe. Es gab Streit, es gab Dramen, es gab sogar Gewalt am Heiligen Abend. Ich selbst erinnere mich ungern an meine Kindheitsweihnachten, an denen der Vater, alle Jahre wieder betrunken, erst sentimental, dann aggressiv wurde und wir Kinder voller Angst unter dem prachtvoll geschmückten Baum saßen und hofften: Möge der Abend vorüber gehen. Nichts mit: Stille Nacht heilige Nacht. Gruselige Nacht.

Weihnachten ist ein Fest, das bei manchen von uns nicht nur mit schönen Gefühlen einhergeht. Weihnachten lässt auch bedrückende Gefühle aufkommen, alte und neue.  

Verluste werden schmerzhaft gespürt, Erinnerungen an bessere Zeiten werden wach, Melancholie und Trauer schleichen sich ins Herz und machen Knoten im Magen und eben auch Gefühle von Einsamkeit werden ganz groß. Neulich sagte eine Klientin zu mir, sie habe regelrecht Panik, wenn sie an die einsamen Weihnachtsfeiertage denkt. Wir haben eine Lösung für sie gefunden, sie verbringt Weihnachten in einem Wellesshotel. Diesen Luxus kann sich aber nicht jeder leisten und manch einer mag auch an Weihnachten nicht allein im Hotel sein.

Wer an Weihnachten einsam ist, ist es meist auch an anderen Tagen im Jahr. Und ich rede nicht von Alleinsein, sondern von diesem schmerzhaften Gefühl der Einsamkeit, dieser existenziellen Einsamkeit, die Menschen auch in einer Beziehung oder in Gesellschaft anderer empfinden und die sich dann im Alleinsein noch verstärkt. 

Eine Melange, die in der Tat schwer aushaltbar ist. 

 

Eine Umfrage der Partnervermittlung ElitePartner ergab, dass sich jeder dritte Single in der Weihnachtszeit melancholisch oder einsam fühlt. Und darunter sind nicht nur ältere und alte Menschen, sondern auch junge, beruflich erfolgreiche. Was sie alle gemeinsam haben: Es fehlt an erfüllenden sozialen Bindungen. Die Gründe dafür sind verschieden, die Auswirkungen gleichen sich: Ohne tiefe vertrauensvolle Bindungen fühlen Menschen sich innerlich einsam. Und es werden immer mehr.

 

Wie umgehen mit der Einsamkeit an Weihnachten?

Die ernüchternde Antwort lautet: Es gibt kein Patentrezept um die Einsamkeit zu erlösen und auch eine Therapie macht aus einem Einsamen keinen sozial verbundenen Menschen. Was einsame Menschen brauchen kann man nicht hintherapieren. 

 

Einsamkeit hat viele Ursachen, die zum Teil in uns selbst liegen können, zum Teil aber auch an den äußeren Umständen. Was zur Vereinsamung geführt hat ist oft  tief in uns verwurzelt. Eine schnelle, für alle passende Lösung, gibt es nicht. Da helfen banale Tipps wie: Gehen sie in einen Verein, in einen Volksschulkurs, suchen sie Kontakt, nichts. Es geht nicht um beliebige Kontakte, es geht um erfüllende Resonanz auf emotionaler und geistiger Ebene, um tiefe Bindung und diese findet sich nicht automatisch indem man unter Menschen geht.

 

Wie also damit umgehen, jetzt an Weihnachten, wenn die Einsamkeit noch schmerzhafter spürbar ist als an anderen Tagen? 

Ein Patentrezept habe ich leider nicht, aber ein paar Gedanken dazu:

 

Verabschiede dich von dem idealisierten Bild von Weihnachten und wie es aussehen sollte. Es ist okay dich einsam und traurig zu fühlen. Du darfst traurig sein. Du darfst vermissen, was dir fehlt. 

 

Du musst kein Weihnachten feiern, keinen Christbaum aufstellen, keine Weihnachtslieder hören und kein Festessen zubereiten. Du kannst Selbsthilferatschläge wie: Mach es dir schön, verwöhn dich selbst, mach dir ein tolles Geschenk, in die Tonne hauen, wenn dir absolut nicht danach ist. 

 

Du darfst dich mal richtig ausschlafen, rumgammeln, dich den ganzen Tag aufs Sofa legen, eine Pizza, anstatt der Weihnachtsgans in den Ofen schieben, ein gutes Buch lesen, deinen Lieblingspodcast hören oder endlos deine Lieblingsserie gucken bis dir die Augen zufallen.

 

Du kannst die Wohnung ausmisten, Ballast entsorgen, eine Wand farbig streichen, endlich mal die Fenster putzen, den PC aufräumen, gründlich Putzen, die Steuererklärung machen. Lass dir von niemandem sagen, wie dein Weihnachtsfest aussehen soll. 

 

Sei liebevoll zu dir selbst, wenn du es kannst und wenn du es nicht kannst, hab Mitgefühl mit dir selbst, dass du es gerade nicht kannst. Du musst nichts tun, was krampfhaft schöne Weihnachten herstellt. Hör auf gegen deine wahren Gefühle anzukämpfen. 

Nimm dich selbst ernst. 

 

Mach dir bewusst: Alles, alles geht vorüber, auch die Weihnachtsfeiertage. 

Und - alles kann sich zum Besseren wandeln. 

This Christmas ist nicht Next Christmas.

 

Vielleicht hilft dir der Gedanke, du bist nicht allein mit deinen Gefühlen. Viele Menschen fühlen sich jetzt einsam wie du.

 

Und du könntest dich fragen: Was ist eigentlich Weihnachten? 

Es ist der Tag von Christi Geburt, um nichts anderes geht es. Da wurde in einem Stall in Bethlehem Einer geboren, der zeigte, was ein Mensch sein könnte. 

Und es geht um die Hoffnung, dass in dunklen Zeiten das Licht zurückkommt. 

It is through the cracks where the light comes in.

 

 

„Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That's how the light gets in.“

Leonard Cohen, Athem

 

 

Montag, 2. Dezember 2024

Aus der Praxis: Vom Opfer zum Gestalter

 



„Ich gebe die Opferrolle auf und übernehme Verantwortung“, steht auf einer der Lebenskarten, die ich manchmal in der Praxis verwende.
Aber was steckt hinter so einem Satz?
Zunächst, muss man unterscheiden zwischen Opfer und Opferhaltung. Wer Opfer ist oder Opfer war, begibt sich nicht unbedingt automatisch in die Opferrolle.
Schauen wir mal genauer hin.
 
Was ist ein Opfer?
Opfer ist ein Mensch, wenn ihm Schaden zugefügt wird.
In der Kriminologie wird das Opfer als die geschädigte Person eines Verbrechens definiert, jemand, der durch einen Täter in seinen Rechten verletzt wurde. Dies Verletzung kann körperlicher Natur sein. Dazu zählen: Mord, Körperverletzung, Gewalt, gefährliche Drohung, Beeinträchtigung der sexuellen Integrität und/oder der Selbstbestimmung. Sie kann ideeller Natur sein wie z.B. Beleidigung und sie kann materieller Natur sein wie z.B. bestohlen werden oder Sachbeschädigung.
Allgemein bezeichnet man ein Opfer als einen Menschen, der entweder aufgrund der Handlungen eines Täters oder aufgrund von Krankheit, Katastrophen, dem Schicksal oder dem Zufall verletzt, beschädigt oder getötet wird.
 
Wie werden Opfer wahrgenommen?
Opfer werden in der Gesamtheit ihrer Person als hilflos, ohnmächtig, gedemütigt, ausgeliefert, schwach, wehrlos, verletzt und beschädigt wahrgenommen.
In der Jugendsprache und in Gefängnissen z.B. wird der Begriff „Opfer“ abwertend benutzt, er wird aufgrund des Verhaltens der betreffenden Person mit Schwäche, Passivität und Hilflosigkeit assoziiert. „Opfer“ haben einen schlechten Stand und sind Demütigungen und Verletzungen ausgesetzt.
In der Psychologie bezeichnet man als Opfer eine von negativen Ereignissen wie Gewalt (seelisch oder körperlich) und von Trauma betroffene Person. 
 
Was ist die Opferhaltung?
Die Opferhaltung hat nicht unbedingt damit zu tun, tatsächlich ein Tatopfer oder ein Katastrophenopfer zu sein. Wenn man von Opferhaltung spricht geht es vielmehr um die innere Haltung und die Einstellung eines Menschen. Wer sich als Opfer fühlt, fühlt sich anderen, dem Leben, der Vergangenheit, dem Trauma, dem Schicksal ausgeliefert und ist nicht bereit oder fähig Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen. Er sieht, interpretiert und lebt das Leben aus der Identität des Opfers. 
 
Die Opferrolle ist eine innere Haltung die u.a. folgende Charakteristika aufweist: 
 
1. Die externe Verortung von Kontrolle auch „external locus of control“ genannt, im Gegensatz zur Kontrollüberzeugung. Es besteht die innere Überzeugung, keine eigene Kontrolle über Entscheidungen, Verhalten und Handlungen zu haben und den Dingen hilflos ausgeliefert zu sein.
2. Schuldzuweisung: Eine zentraler Punkt der Opferrolle ist, jegliche Schuld von sich zu weisen. Es besteht die innere Überzeugung, dass generell andere oder das Schicksal an dem, was geschieht oder geschehen ist, schuld ist. Eigene Anteile werden nicht gesehen, nicht in Erwägung gezogen oder von sich gewiesen.
3. Alles persönlich nehmen und konkret auf sich selbst zu beziehen: Das heißt, jede Art von Kritik und äußere Umstände werden im direktem Bezug auf sich selbst wahrgenommen und als negativ empfunden.
4. Ausreden: Dazu gehört das „eigentlich“ Denken. „Eigentlich will ich, aber ich kann nicht weil …". Es werden immer Gründe im Außen gesucht und dafür verantwortlich gemacht, warum etwas ist, wie es ist und warum es unveränderbar ist.
5. Sich selbst Kleinmachen: Dazu gehören dysfunktionale innere Überzeugungen und destruktive Glaubenssätze, die mental klein machen. Z.B: Ich bin wehrlos, ein vom Schicksal gebeutelter Mensch, ich habe nichts Gutes verdient, Gott straft mich, Gott hat mich verlassen, ich bin arm dran, ich habe immer Pech, ich bin vom Leben bestraft, ich bin schwer traumatisiert, ich kann nichts, ich bin nichts und und und und. Dazu gehören auch Überzeugungen wie „Alle oder das Leben ist sind gegen mich“ oder „Niemand versteht mich und niemand kann mir helfen.“
 
Kurz: Ein Mensch, der in der Opferrolle feststeckt, empfindet sich grundsätzlich als machtlos und ausgeliefert und nicht als Gestalter seines Lebens.
 
Wie kommt es dazu?
Die Opferhaltung ist eine Coping Strategie, die wir aufgrund traumatischer oder sich wiederholender negativer Erfahrungen entwickelt haben, um uns vor weiteren Verletzungen und Wunden zu schützen. Aber diese Strategie geht nicht auf. Sie ist ein meist unbewusster untauglicher Versuch um Verständnis, Schutz, Hilfe, Zuspruch, Mitgefühl und Rücksichtsahme zu erhalten.
Traumata und Probleme lösen sich aber nicht, indem wir uns mit der Opferrolle identifizieren und keine Verantwortung für unsere Handlungen im Jetzt übernehmen und in Schuldzuweisungen anderen oder einer höheren Macht gegenüber, stecken bleiben.
Diese innere Haltung führt nur weiter in die Ohnmacht.
Sie hat sich selbst verstärkenden Charakter.
Wir geben die Kontrolle über unser Leben damit vollends ab und sind unfähig unser Leben zu gestalten. Wir bleiben in der Vergangenheit stecken und überladen das Jetzt mit dem Vergangenen. So kann keine Entwicklung und kein Wachstum stattfinden.
Der Weg raus aus der Opferrolle bedeutet kurz gesagt: Die Bereitschaft zu entwickeln sich selbst als Gestalter des eigenen Lebens zu ermächtigen, und zwar unabhängig von dem, was war, und von äußeren Einflüssen und Umständen.
Er bedeutet eine Entscheidung zu treffen: Nämlich Eigenverantwortung, Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit erreichen zu wollen und dies auch zuzulassen. Das ist kein leichter Weg, es ist ein Prozess, wie jede Entwicklung zum Besseren hin. Jede Veränderung in Richtung Genesung beginnt mit der Entscheidung etwas anders zu machen und mit der unbedingten Bereitschaft es zu tun. 
 
Nachtrag 

Der Begriff "Victim Blaming" bedeutet zu deutsch: dem Opfer die Verantwortung zuschieben. Also eine Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses. Das Opfer ist schuld an dem ihm widerfahrenen Unrecht und nicht der Täter. Das Opfer wird damit zum Täter erklärt. Victim Blaming ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Opferhaltung. Opfer sind in diesem Punkt hochempfindlich, weil sie oft den Unterschied nicht erkennen.
Victim Blaming bedeutet: Das Opfer ist schuld.
Opferhaltung bedeutet: Man ist Opfer und ergibt sich in die Opferhaltung, was bedeutet: man ergibt sich der Hilflosigkeit und der Ohnmacht und bleibt in der Überzeugung stecken: Ich bin ein Opfer, folglich bleibe ich immer ein Opfer.
Man identifizert sich mit dieser Haltung.
Das Trauma kann so jedoch nicht gelöst werden.
Es löst sich dann, wenn die Bereitschaft besteht vom Opfer zum Gestalter zu werden und Selbstermächtigung zu erlangen, indem man das Trauma aufarbeitet und sich professionelle Hilfe sucht. 
 
Die Gründe warum Menschen die Opferrolle beibehalten und es nicht schaffen diese selbstschädigende Haltung wieder zu verlassen, sind vielfältig und bei jedem andere.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Schuld nicht beim Opfer, sondern immer beim Täter liegt. Die Verantwortung für das Verbleiben in der Opferrolle liegt beim Opfer selbst.
 
„I will do good
no matter what
no matter what happens to me
I will do good
It´s an absolute rejection of the idea of being a victim
I will do good
no matter how much suffering comes my way
no matter how much undeserved suffering comes my way
i will not loose faith
I will do good“
 
- David Millar
 
Lebenskarten: www.lebenskarten.de
 
Angelika Wende

Sonntag, 1. Dezember 2024

Alleinsein, allein leben

 


Alleinsein – all einsein, heißt im Einklang mit uns selbst zu sein, mit uns selbst und mit dem Ganzen gefühlt in Kontakt und verbunden zu sein. Alleinsein bedeutet nicht einsam sein, das zu unterscheiden ist wichtig. Einsam sein kann man auch unter Menschen und in einer intimen Beziehung. Einsamkeit ist schmerzhaft. Sie ist ein Zustand, der nie selbst gewählt ist. Das Gefühl von Einsamkeit wird durch ein emotionales Defizit ausgelöst. Alleinsein bedeutet für sich sein, physisch allein zu sein, also keinen anderen Menschen in unserer Nähe zu haben. Allein zu sein und allein zu leben bedeutet viel Zeit mit uns alleine zu verbringen, alleine Dinge zu tun, alleine unseren Alltag zu meistern, in allen Lebensbereichen alleine für uns zu sorgen, abends in eine leere Wohnung zu kommen und morgens alleine aufzustehen, oft auch an den Wochenenden allein zu sein, Dinge alleine zu tun, niemand zu haben, der da ist, weil Freunde und Familie keine Zeit haben oder weit weg wohnen. Allein leben bedeutet, dass, wenn wir krank sind, niemand da ist, der uns umsorgt. 

Allein leben ist eine Herausforderung, vor allem dann, wenn wir es nicht gewohnt sind oder es uns anders wünschen. Es gibt Menschen, die Angst vor dem Alleinsein haben. Für sie ist die Vorstellung alleine zu leben schwer auszuhalten. Sie bekommen schon beim Gedanken daran ein beklemmendes Gefühl. Alleinsein ist für sie mit einer diffusen oder einer konkreten Angst besetzt. Sie sind unfähig das Alleinsein zu genießen und vermeiden es um jeden Preis. Viele Menschen bleiben aus Angst vor dem Alleinsein sogar in unheilsamen Beziehungen. Wer nicht allein sein kann ist abhängig von anderen. Diese Abhängigkeit erzeugt wiederum eine diffuse Unsicherheit. Verlieren diese Menschen wovon sie abhängig sind, ist da eine große Leere. Sie wissen nicht wohin mit sich, nichts mit sich selbst anzufangen, sie fühlen sich lost oder einsam. Manche Menschen haben so starke Angst vor dem Alleinsein, dass diese Angst zu Panikattacken und anderen seelischen Problemen führen kann. Dann spricht man von einer Autophobie.

Die Angst vorm Alleinsein hat Gründe. Meist liegen diese in der Kindheit. Man nimmt an, dass frühe Erfahrungen von Verlusten und Trennungen zu dieser Angst beitragen. Betroffene befürchten eine Wiederholung dieser traumatischen Erlebnisse und wollen diese Erfahrung um jeden Preis vermeiden. Wer Alleinsein als bedrohlich und schmerzhaft empfindet, ist gut beraten, sich professionelle Hilfe zu suchen um mit der Angst umgehen zu lernen. Dabei geht es nicht darum die vollständige Abwesenheit der Angst zu erreichen, Ängste sind hartnäckig, sondern um die Kontrolle über die Furchtreaktion, wodurch sie auf einem subjektiv erträglichen Intensitätsniveau gehalten werden kann und die angstbesetzte Situation nicht mehr vermieden werden muss. Wie bei allen Ängsten gilt auch bei der Angst vorm Alleinsein: Damit wir mit der Angst arbeiten können, müssen wir uns der Angst stellen und dann durch sie hindurchgehen. Wenn wir dagegen ankämpfen, wird sie nur stärker. Je mehr wir versuchen, Angst zu vermeiden, desto intensiver fühlen wir sie. Jedes Mal, wenn wir es schaffen die Angst auszuhalten, wird sie beim nächsten Mal weniger intensiv. Jedes Gefühl, auch Angst, verändert sich, aber dazu müssen wir uns mit Situationen konfrontieren, in denen wir das Gefühl fühlen.

Aber auch das klappt nicht immer und nicht bei jedem. Damit eine neue Wahrnehmung entsteht, müssen wir ein neues Gefühl entwickeln um die Angst auflösen und transformieren zu können. Eine Möglichkeit ist: Wir gehen in die Angst hinein und versuchen in der Angst eine neue Emotion wahrzunehmen. Konkret bedeutet das: Wenn wir Angst vorm Alleinsein haben, sorgen wir dafür gedanklich bewusst in einen positiven Zustand zu kommen, der ein positives Gefühl auslöst. 

Es ist hilfreich sich immer wieder zu sagen: Ich alleine mit mir selbst bin frei, ich bin für mich da, ich sorge gut für mich, ich bin in guter Gesellschaft, ich genieße die Ruhe und die Stille. Ich bin dankbar mit mir selbst in Kontakt zu sein. Ich bin nicht allein, ich bin immer für mich da. Diese Worte können helfen ein positiveres Gefühl zu empfinden. Unser Gehirn kann das Gefühl speichern, indem wir diese Gedanken wiederholen. Wir überschreiben alte Annahmen mit neuen Annahmen. Eine weitere Möglichkeit mit der Angst vor dem Alleinsein angemessen umzugehen ist, sich zunächst einmal zuzugestehen, dass man Angst hat. Besonders Menschen, die noch nie alleine gelebt haben fühlen sich am Anfang lost. Das ist normal. Sie müssen ja erst lernen mit der neuen Situation umzugehen und sich ihr langsam anzupassen. Es hilft, sich zu sagen: Dieses Gefühl wird nicht für immer bleiben. Ich habe schon andere schwierige Situationen gemeistert, das schaffe ich auch. Es gibt vieles, was wir für sich selbst tun können, um die Angst zu reduzieren. Schon alltägliche, kleine Dinge, die wir gerne tun oder Dinge an denen wir uns erfreuen, Beschäftigungen, die usn erfüllen, können dazu führen, dass wir uns weniger ängstlich fühlen.

Was kann ich jetzt für mich alleine tun, um mich besser zu fühlen? Was macht mich glücklich? Was macht einen Tag zu einem guten Tag? Bei welcher Tätigkeit vergesse ich die Zeit? Was kann ich für mich tun, was mir jetzt gut tut? 

Fragen wie diese sind unterstützend um uns, anstatt auf die Angst, auf einen kreativen Umgang mit dem Alleinsein zu fokussieren. Entscheidend aber ist, um die Angst vor dem Alleinsein zu überwinden, dass man mit sich selbst im Reinen und mit sich selbst zufrieden ist. Alleine sein und alleine leben ist eine Kunst. Die Kunst des Alleinseins ist wie jede Kunst erlernbar. Zugegeben, das ist für Menschen, die Angst davor haben, keine leichte Übung. Es erfordert Geduld, Kontinuität und aktives Tun um die Angst nach und nach zu transformieren. Es lohnt sich, denn wer angstfrei mit sich alleine leben kann, wer mit sich selbst in guter Gesellschaft ist, braucht niemanden um seine Gefühle zu regulieren, sich seine Zeit vertreiben zu lassen und um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Er ist selbstbestimmt und emotional nicht von anderen abhängig. Er ist sich selbst genug und damit selbstabhängig, was nicht bedeutet, wenn ihm die Liebe begegnet, dass er sich ihr nicht zuwendet - um zu lieben, nicht um zu brauchen oder um gebraucht zu werden.