Samstag, 3. September 2022

Hilfe!

 



Neun Uhr am Morgen. Ich komme aus der Bäckerei.
Vor der Bäckerei steht eine ältere, verwahrlost aussehende Frau. Völlig verzweifelt schreit sie: "Hilfe!"
Ich frage Sie, wie ich Ihr helfen kann.
"Die Taube, da! Sehen sie, die Taube, sie stirbt!"
Ich blicke auf das Pflaster. Unten sitzt eine weiße Taube mit einem zerfetzten Flügel.
Ein junger Mann kommt aus der Bäckerei und reicht der Frau eine Flasche Wasser, sie soll bitte einen Schluck nehmen und sich beruhigen. Ich sage: "Es gibt einen Taubenrettungsdienst, den ich jetzt anrufe. Der Taube wird geholfen."
Die Frau schreit: "Sie ist ein Baby, sie darf nicht sterben!"
Der junge Mann und ich versuchen weiter die Frau zu beruhigen. Es gelingt uns nicht. Sie schreit unaufhörlich.
 
Weil ich unterwegs kein W-Lan habe und der junge Mann auch nicht, bitte ich einen alten Herrn, der vor der Bäckerei an einem Tisch sitzt, die Nummer der Taubenrettung zu googeln, was er sofort macht. Die Frau sitzt mittlerweile mit der verletzten Taube in den Händen an einem anderen Tisch.
Sie lallt: "Ich bin betrunken, aber das Baby darf nicht sterben. Bitte, bitte helfen sie mir!"
Der alte Herr am Nebentisch findet die Nummer der Taubenrettung nicht, also rufe ich die 112 an. Ein freundlicher Polizist sagt: "Wir kümmern uns darum." Ich gebe ihm die Adresse, an der wir uns befinden. Ich bedanke mich bei dem Polizisten, drehe mich um, aber die Frau ist verschwunden.
 
"Ich konnte sie nicht aufhalten", sagt der junge Mann, sie ist weg mit der Taube auf dem Arm."
Wir sehen uns eine Weile sprachlos an. "Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee", sage ich, gehe in die Bäckerei und holen mir einen.
Der junge Mann holt sich auch einen.
Wir setzen uns an einen Tisch.
"Tja", sagt er: "Was soll uns das jetzt sagen?"
Ich denke kurz nach: "Was uns sagen kann? Es sagt uns, dass es vergeblich ist, einem Menschen zu helfen, der nicht bereit ist unsere Hilfe anzunehmen."
Er nickt: "Wie traurig."
"Ja, das ist traurig", antworte ich.
"Aber wissen Sie, was ich auch sehe?"
Er lächelt: "So viele Menschen hier haben der Frau ihre Hilfe angeboten. Sie haben alle geholfen. Und das fühlt sich gut an, ich hatte schon fast den Glauben an das Gute im Menschen verloren."

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