Dienstag, 27. September 2022

Aus der Praxis: Nicht das Ich - das Es hat die Macht.

 

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„Oft genug habe ich im Lauf meines Lebens getan, wofür ich mich nicht entschieden hatte, und nicht getan, wofür ich mich entschieden hatte. ES, was immer es sein mag, handelt; ES fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will, macht gegenüber dem Vorgesetzten die Bemerkung, mit der ich mich um Kopf und Kragen rede, raucht weiter, obwohl ich mich entschlossen habe, das Rauchen aufzugeben, und gibt das Rauchen auf, nachdem ich eingesehen habe, dass ich Raucher bin und bleiben werde.
Ich meine nicht, dass Denken und Entscheiden keinen Einfluss auf das Handeln hätten. Aber das Handeln vollzieht nicht einfach, was davor gedacht und entschieden wurde. ES hat seine eigene Quelle“, schreibt Bernhard Schlink in seinem Buch „Der Vorleser“.
 
Schlink beschreibt, was viele von uns gut kennen.
Wir wollen etwas oder wollen etwas nicht, aber da ist etwas in uns, dass uns dazu bringt anders zu fühlen und zu handeln, als wir es mit dem Verstand wollen, auch wenn wir wissen, dass es falsch oder sogar unheilsam für uns ist. Das liegt daran, dass die frontale Hirnrinde das limbische Verlangen nur schwer im Zaum halten kann. Das Gehirn ist zwar imstande, sich intellektuell von Gedanken und Überzeugungen zu lösen, emotional ist das aber kaum möglich.
Dieses ES, von dem es Schlink schreibt, ist das Unterbewusstsein, dieser geheimnisvolle, schwer durchdringbare Ort, wo unsere tief emotionalen, unterbewussten Überzeugungen und Verhaltensprogramme sitzen. 
 
Das Unterbewusstsein ist die Summe aller Vorstellungen, Erinnerungen, Eindrücke, Motive, Einstellungen und Handlungsbereitschaften, die in uns gespeichert, aber nicht bewusst aktiv sind. Im Unterbewusstsein sind all die Informationen gespeichert, die wir über uns selbst und die Welt gesammelt haben, individuell und kollektiv. Alles was im Moment aktiv ist, ist uns zwar bewusst, unterbewusst beeinflussen aber all die inaktiven Elemente unserer Psyche unser tägliches Denken, Fühlen und Handeln. Mit anderen Worten: Es findet ständig eine Kommunikation zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein statt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
 
Durch unsere Erlebnisse und Erfahrungen werden Denk- und Gefühlsmuster programmiert, die immer wieder die gleichen Verhaltensweisen und Reaktionsmuster hervorbringen. Die alte Programmierung läuft automatisch ab, immer in der gleichen Weise, wie ein Computerprogramm. Das kann ungute Folgen haben. Das ist vor allem dann der Fall, wenn negative oder destruktive emotionale Programmierungen unser Leben beeinflussen. Dazu gehören besonders auch Traumata.
ES ist mächtig und es ist schwer, es mit dem Verstand zu zähmen oder es zu verändern. Das gelingt nur beschränkt, denn das limbische System, das zwischen den Hälften des Großhirns sitzt, ist mit dessen Denkregionen fest verknüpft, Die dort gespeicherten Daten färben jede Erkenntnis, jedes Erleben und jede Absicht mit Emotionen und manipulieren so unseren Verstand. ES bringt uns dazu überwiegend emotional geprägte Entscheidungen zu treffen. 
 
Unsere Gefühle und Gedanken sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Hirnforschung hat hinreichend bewiesen: Unser Gehirn ist zwar imstande, sich intellektuell von alten Programmierungen zu lösen – emotional ist das jedoch kaum möglich. Ein Fakt, den wir akzeptieren sollten, wenn wir uns zum hundertsten Mal fragen: „Wenn ich doch weiß, wie ich die Dinge anders sehen kann, wie ich anders reagieren, denken und handeln kann, wenn ich doch weiß, dass ich okay bin, liebsnwert, wertvoll, wieso fühle ich es nicht?“
Die Antwort: Weil nicht das Ich, sondern das Es die Macht hat.
 
Das bedeutet aber nicht, dass wir die Machtverhältnisse nicht ändern können – zu unserem Besten.
Wir können manches ändern, aber eben nicht alles. Wir können manches wollen, aber nicht alles haben. Unsere Macht über unser Unterbewusstsein ist eben begrenzt. Das ist okay. Indem wir jedoch Kontakt nach Innen aufnehmen und unser Unterbewusstsein erforschen, so weit es möglich ist, können wir uns Fähigkeiten und Möglichkeiten erschließen, die bei einer rein automatisch ablaufenden Kommunikation zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein unentdeckt bleiben würden.
Wir werden uns, unserer Selbst bewusster. Das ändert vieles. 
 

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