Freitag, 3. Juli 2020

Ars Moriendi oder die Kunst des Sterbens



Alles, alles geht vorüber. Die Endlichkeit von allem und jedem ist mit dem Leben untrennbar verbunden. Nichts bleibt für immer, nichts ist identisch und nichts ist wiederholbar. Das zu erfahren ist Teil eines jeden Lebens. Die darin ruhende Aufgabe stellt sich uns von Anfang an und durchzieht das ganze Leben. Ankommen und Abschied, Werden und Vergehen - der ewige Kreislauf. Mit dem Geborenwerden beginnt das Sterben.

Zeit - an der Vergänglichkeit des Menschen wird sie bemessen.
Das Leben bei allem Schönen und Guten auch als Abschied zu nehmen und dies anzuerkennen, lernen wir je älter wir werden. Wir lernen die Begrenzung der Zeit zu begreifen und ihre Kostbarkeit zu schätzen.

Zeit ist das schönste Geschenk, das wir uns selbst und anderen machen können.
Wir nehmen uns Zeit, Lebenszeit in der wir für den anderen da sind. Präsent, zugewandt, interessiert und offen. Indem wir unsere Zeit schenken, schenken wir dem anderen uns selbst und er schenkt sich uns, für Momente in der Zeit. Er ist uns wichtig und wir sind ihm wichtig. Es entsteht Nähe, Beziehung, Vertrautheit. Gemeinsame, geteilte, geschenkte Zeit - Momente aus denen etwas erwächst was wir alleine nicht bewirken können - Verbindung zueinander, die über die gemeinsam verbrachte Zeit hinaus bestehen bleibt.

Die Zeit die ein Mensch mit uns verbringen mag ist ein Indikator dafür wie wichtig wir ihm sind, wie wertvoll in seinem Leben wir sind, wie sehr er uns schätzt und achtet.
Je mehr wir Zeit miteinander verbringen, desto mehr wachsen wir zusammen, desto vertrauter werden wir. Wir schaffen emotionale Bindung und überwinden so das Gefühl des Getrenntseins. Wir erfahren – wir sind nicht allein. Wir sind angenommen, vielleicht sogar geliebt.
Welch ein Geschenk.

Aber dann kann es geschehen.
Die gemeinsame Zeit wird immer weniger.
Der andere hat immer weniger Zeit, immer weniger Interesse uns seine Zeit zu schenken. Etwas anderes, jemand anderes, wird ihm wichtiger und seine Aufmerksamkeit uns gegenüber wird klein und kleiner. Das kann sich ganz leise, kaum spürbar vollziehen oder mit einem harten Schnitt, das, was war, beenden. Das gemeinsam Verbundene erfährt Trennung.
Trauer wartet als das Gegenüber der einstigen Bindung.
Trauer gehört auch zur Wahrscheinlichkeit jeder Liebe. Sie steht als Preis dafür lieben zu können und lieben zu dürfen.
Der Gehende steigt aus der gemeinsamen Zeit aus, er hinterlässt uns einen leeren Raum, in dem wir ihn suchen und nicht mehr finden. Trennung liegt in dem Zeitraum zwischen Gestern und heute. Wir sind allein mit unserer Zeit, die wir so gerne weiter geschenkt, weiter geteilt hätten. Der Gehende zertrümmert jede Möglichkeit und hinterlässt uns ein Nichts. Die Endlichkeit ist nicht revidierbar.
Wir machen Bekanntschaft mit dem Tod im Leben. „Partir, c'est toujours un peu mourir“, sagen die Franzosen. Gehen ist wie ein kleiner Tod.
Und so fühlt es sich an für den Zurückgebliebenen, der dem Gehenden voller Trauer hinterherblickt - wie ein Sterben im Leben.

All die Abschiede im Leben, all die noch wartenden Abschiede, gehören zu unseren Lehrmeistern. Lehrmeister, die uns den Verlust als existentielle Erfahrung unseres Menschseins vor Augen führen.
Und wir begreifen tief drinnen: Alles ist endlich, auch wir selbst. Leben heißt auch: Im Abschied leben lernen. Lernen das Sterben zuzulassen und dem Tod als Weggefährten zu begegnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen