Freitag, 17. Juli 2020

Grenzsituationen

Foto: Angelika Wende

„Vergewissern wir uns unserer menschlichen Lage. Wir sind immer in Situationen. Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten. Aber es gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muss sterben, ich muss leiden, ich muss kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. Das Bewusstwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie“, schreibt Karl Jaspers.

Auch wenn die Grenzsituation eine ungewöhnliche Situation ist, in der die üblichen Mittel und Maßnahmen zu ihrer Bewältigung keine Anwendung mehr finden und der Boden auf dem wir gehen erschüttert ist, haben wir dennoch nicht alles verloren. 

Corona hat die ganze Welt in eine Grenzsituation gebracht. Der Fortbestand von vielem steht auf dem Spiel. Vieles von dem was für uns selbstverständlich war haben die Auswirkungen der Pandemie schon weggerissen. In solchen Grenzsituationen, herausgerissen aus der Normalität des Lebens, liegen die Dinge anders. Wir machen Erfahrungen, die wir uns noch vor wenigen Monaten nicht vorstellen konnten. Und wir werden weitere machen, von denen wir glaubten, sie nie machen zu müssen.

Grenzsituationen reißen uns nicht nur aus dem gewohnten Leben sondern auch aus dem gewohnten Denken. 
Sie decken auf und machen sichtbar was wirklich ist. Grenzsituationen machen Angst, sie lassen uns zweifeln und zögern und sie lassen uns suchen – Wege um damit leben zu können. Indem wir die Unzuverlässigkeit des Lebens hautnah erfahren wandelt sich unser Bewusstsein – wir erleben etwas womit wir nicht gerechnet haben und wofür wir zunächst keine Alternativen haben.
Die Erschütterung unserer Existenz, von der Jaspers spricht, hat viele Auswirkungen.
Inmitten dieser Erschütterung die Ruhe zu bewahren ist eine Herausforderung und eine hohe Kunst. Wir sind es gewohnt, für alles schnelle Lösungen zu finden und stellen fest – hier ist uns eine Grenze gesetzt, die wir nicht so leicht überwinden, vielleicht sogar überhaupt nicht. Hier wird von uns etwas gefordert, was wir nicht gewohnt sind: Verzicht, Durchhaltevermögen, Abwarten, Aushalten, Geduld und Kreativität.

Grenzsituationen trennen auch die Spreu vom Weizen.
Wir erfahren auf wen und auf was wir uns verlassen können und was oder wen wir loslassen müssen.
Grenzsituationen stellen Fragen wie: Was ist in meinem Leben wirklich wichtig und wertvoll? Wo lohnt meine Energie und mein Einsatz und wo nicht?
Und vor allem: Was gibt mir Halt?
Manches oder mancher, von dem wir glaubten daran Halt zu finden löst sich in Wohlgefallen auf. Das schmerzt. Mitten im Schmerz der ohnehin schon schweren Situation, müssen wir erfahren wo wir uns etwas vorgemacht haben oder man uns.
Alle Lügen und alle Selbstlügen auf die wir unser Lebensfundament gebaut haben, entlarven sich. Unser auf scheinbar sicherem Boden errichtetes Haus fällt in sich zusammen. Im Zweifel stehen wir jetzt allein da, weil sich Menschen, die angeblich unsere Freunde oder sogar Geliebte waren, von uns entfernen, weil sich etwas finde, was ihnen mehr nützt als wir ihnen noch nützen können.
Das ist bitter. Das ist schmerzhaft. Das ist traurig. Das ist in der Erschütterung der Grenzsituation eine zusätzliche Erschütterung, die den Stärksten umhauen kann.

Was jetzt? Was rettet uns ? Was nutzen wir für den eigenen Trost? Woher nehmen wir die Kraft weiter zu machen?
Wir reagieren nicht wie das verletzte, verlassene, hilflose Kind in uns es tun will, verzweifelt, ohnmächtig, kopflos und voller Angst unterzugehen, wenn da niemand mehr ist. Das würde uns nur weiter den Boden unter den Füßen wegziehen. Wir treten erwachsen und offenen Auges in die Situation ein. Wir erkennen: Grenzsituationen erfahren und Leben ist dasselbe.
Egal wie schwer es gerade ist – das ist Leben, unser Leben.
Und damit erkennen wir an was ist. Egal wie es ist.
Wir erkennen an, dass es eine Illusion ist, dass das Leben dauernd in Ordnung sein muss.
„Situation wird zur Grenzsituation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt.“, schreibt Jaspers. Und so ist es.
Wir erwachen, wenn wir den Widerstand aufgeben und radikal akzeptieren was unveränderbar ist. Wir kämpfen nicht weiter gegen die Situation an, sondern wir nehmen sie an. Wir entspannen uns in die Dynamik der Situation hinein und geben den Kampf auf.
Und nein, das ist keine leichte Übung. Aber sie hilft. Ich weiß es, weil ich sie gerade selbst machen darf.

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