Samstag, 6. Juni 2020

Verlust und Trauer

Foto: A.W.


Wenn die Realität, wie wir sie kennen, zerbricht fallen wir ins Bodenlose. Verlieren wir einen Menschen, mit dem wir unser Leben geteilt haben, verlieren wir nicht nur ihn, sondern auch ein Stück unserer Welt. Wir verlieren, was uns Halt, einen Bezugspunkt und einen Sinn gab. Der Verlust eines geliebten Menschen fühlt sich an als hätten wir einen Teil von uns selbst verloren. Wir vermissen nicht nur den Menschen, wir vermissen die Gewohnheiten, die wir mit ihm geteilt haben, wir vermissen das Gefühl, dass jemand an unserer Seite ist, wir vermissen, dass wir die Aufgaben, Probleme und das Schöne des Alltags teilen können, wir vermissen die gemeinsamen Gespräche, wir vermissen die Beziehung an sich und wir vermissen das Gefühl geliebt zu werden und zu lieben. Es ist völlig egal warum wir diesen Menschen verloren haben - ob er gegangen ist, ob wir selbst gegangen sind oder ob der Tod uns von diesem Menschen getrennt hat, wir erleiden einen schmerzhaften Verlust.

Plötzlich ist da eine Lücke in unserem Leben, ein riesiges dunkles Loch, das sich vor uns auftut, und wir wissen nicht womit wir es füllen könnten.
Dieses Loch füllt sich zunächst mit all den Gefühlen von Trauer, Angst, Schmerz, Wut, Ohnmacht und vielleicht sogar Verzweiflung. Wir gehen durch alle Phasen der Trauer, die sich bei einem Abschied einstellt. Diese Phasen hat die Psychoanalytikerin und C.G. Jung Schülerin Verena Kast so zusammengefasst: Den Schock des Nicht-Wahrhaben-Wollens, Verzweiflung, Hilf- und Ratlosigkeit herrschen vor. Die Phase der aufbrechenden Emotionen: Gefühle bahnen sich ihren Weg. Schmerz, Wut, Zorn, Traurigkeit und Angst, wobei je nach der Persönlichkeitsstruktur des Trauernden andere Gefühle vorherrschen. Beim einen sind es Wut, beim anderen Schmerz, beim nächsten sind es Schuldgefühle, weil er meint, er hätte das, was ist verhindern können oder er sei gar verantwortlich für das, was ist. Diese Gefühle haben einen Sinn, sie müssen durchlebt werden, sie müssen an die Oberfläche. Werden sie unterdrückt kommt es nicht selten zu einer andauernden Melancholie, zu Depressionen und zur Desorientierung im weiteren Lebensverlauf.

Eine weitere Trauerphase ist die des Suchens und Sich-Trennen
Auf jeden Verlust reagieren wir mit Suchen. Im Schmerz der Trauer suchen wir nach dem verlorenen Menschen, wir suchen nach dem gemeinsamen Leben, wir suchen in Erinnerungen, wir suchen an gemeinsam besuchten Orten, in den Gesichtern Fremder, in Gewohnheiten, die wir aufrecht erhalten um was uns Halt gab, nicht auch noch zu verlieren. Im Verlauf dieses Suchens, Findens und Wieder-Trennens, so Kast, kommt irgendwann der Augenblick, wo der Trauernde die Entscheidung trifft, wieder ja zum Leben und zum Weiterleben zu sagen. Kommt dieser Augenblick nicht, verharren wir in der Trauer. Wir können nicht loslassen, wir lösen die Fäden nicht, die uns an den Anderen gebunden haben - wir bleiben gebunden an die unwiderbringliche Vergangenheit, unser Leben im Jetzt stagniert. Wir erstarren emotional. So wird aus Schmerz Leiden. Wir leiden immer, wenn wir etwas verloren haben und wir leiden, wenn wir etwas Erwünschtes nicht haben können. Das Leiden, sagt Buddha, hat eine einzige Wurzel - das Verlangen. 

Es ist schwer kein Verlangen mehr zu haben. Sich endgültig zu verabschieden bedeutet - nicht mehr zu verlangen, dass das Alte wiederkehrt.  
Das Ende des Leidens heißt, dieses Verlangen, diesen Wunsch zu begraben. Es bedeutet zu akzeptieren was ist - loszulassen was nicht mehr ist und die neue Wirklichkeit anzuerkennen wie sie ist. Ja, so ist es! Das bedeutet es annehmen. Es hilft diese Worte immer wieder zu sagen. Ein kluger Mann gab mir diese Worte in meiner Trauer und ich sage sie, ich wiederhole sie immer dann, wenn ich den Drang verspüre mir zu wünschen, dass die Dinge anders sein sollen, als sie sind. Das Ja zu dem was ist heißt nicht, dass es weniger schmerzt, heißt nicht, dass es weniger schlimm ist - es heißt: Ja, es ist schlimm, aber ich akzeptiere den Schmerz, ich will ihn auch nicht wegmachen. Ich lasse ihn sein und versuche ihn nicht zu verdrängen, ich lasse ihn da sein, solange er da ist. Ja, so ist das!, macht den Schmerz erträglicher, weil der Widerstand wegfällt und weil damit das Verlangen wegfällt es anders haben zu wollen.  

Wir leiden weniger, wenn wir den Schritt wagen kein Verlangen mehr zu haben. Es ist wahr. Es ist wahr, weil es keinen Sinn macht, nach etwas zu verlangen, was für uns nicht erreichbar ist.
Das ist eine schwere Aufgabe für alle Menschen, denn wir Menschen haben Verlangen und wir haben Wünsche. Wir sind nicht Buddha und nicht so erleuchtet, dass die bloße Erkenntnis ausreichen könnte um unseren Schmerz zu lindern. Aber wir können lernen, aus dem Schmerz kein Dauerleid zu erschaffen indem wir an Verlorenem hängen bleiben. Oh ja, es ist verlockend, denn das Gebundenbleiben an das Verlorene, an den Menschen, den wir verloren haben, füllt die Lücke des Verlustes - wir müssen nicht nach dem Neuem suchen, was sie füllen könnte. Wir suggerieren uns damit unbewusst: Da wo eigentlich Leere ist, ist noch Fülle, die Fülle des Vergangenen. Das Gebundenbleiben soll uns bewahren vor diesem entsetzlichen schwarzen Loch, das sich auftut, wenn wir Ja zu dem sagen, was nicht mehr ist. 

Trauer hat keine begrenzte Zeit und jeder Mensch braucht seine Zeit der Trauer. Die Einen mehr, die Anderen weniger. Trauer lässt sich nicht abkürzen und nicht beschleunigen.  
Jede Trauerphase kann Wochen, Monate oder Jahre dauern und die Phasen können einander immer wieder abwechseln. Trauer ist eine Achterbahn der Gefühle. Trauer erfordert Geduld mit uns selbst. Sie erfordert aber auch, dass wie irgendwann begreifen, dass Verluste zum Leben gehören. Verluste sind allgegenwärtig und unvermeidlich. Verluste sind notwendig, weil wir an ihnen wachsen. Nur durch sie werden aus uns vollentwickelte Menschen. Verlust und Trauer sind Anpassungsprozesse. Wohl gemerkt: Prozesse. Jeder Prozess hat verschiedene Stadien und Ebenen in denen er verläuft. Wir können diesen Prozess weder beschleunigen noch manipulieren, aber wir tun gut daran uns ihm zu überlassen. Damit beginnen wir bereits ein wenig loszulassen. 

Im Loslassen beginnt langsam und allmählich das, was Verena Kast den neuen Selbst- und Weltbezug nennt.
Nachdem wir unseren Schmerz, unsere Wut und unsere Verzweiflung gefühlt haben, nachdem alle Anklagen und Vorwürfe gegen Gott, das Schicksal und das Leben gemacht werden durften, kehrt mit der Zeit allmählich Frieden in die Seele zurück. Der Verlust hat dort seinen Platz gefunden. Das Herz wird ruhiger. Wir erkennen, dass unser Leben auch ohne den Anderen weitergeht und dass wir selbst dafür verantwortlich sind die Lücke zu füllen. Die große Herausforderung besteht jetzt darin, Wege zu finden uns ein neues Leben zu gestalten, was uns, weil es so ganz anders ist als das alte Leben, schwer fällt. In diesem Moment kommen Fragen wie: Wer bin ich? Was will ich? Wohin will ich gehen? Was gibt meinem Leben noch einen Sinn oder was gibt ihm einen neuen Sinn? Es braucht wieder Zeit um Antworten zu finden. Und manchmal brauchen wir in dieser Zeit Hilfe um sie zu finden. Jemand, der uns hält und uns die Kraft gibt um nach dem Verlust weiterzumachen.
Und irgendwann ist das schwarze Loch ist nicht mehr so bedrohlich, auch wenn der Verlust noch immer schmerzt. Ja so ist das! Und ja, das tut weh. Aber da ist nicht nur der Schmerz, da ist auch das Leben, das auf uns wartet, trotz aller Verluste.



2 Kommentare: