Donnerstag, 13. Dezember 2018

Der Tyrann im Kopf




Malerei: Angelika Wende

"Kein Mensch muss müssen", schrieb einst der Dichter Gotthold Ephraim Lessing.
Ist das wirklich wahr?
Es ist nicht wahr.
Wir müssen alle irgendetwas und wir müssen das müssen, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen zum Beispiel essen, trinken und all die anderen Dinge, die der Körper von uns verlangt, wollen wir nicht zugrunde gehen. Und sterben müssen wir auch müssen. Bei allem anderen wie z.B., dass wir arbeiten müssen um zu leben, streiten sich die Geister. Menschen mit Zwangsstörungen allerdings können ein ganz anderes Lied vom müssen müssen singen und es wäre ein Klagelied, würden sie es anstimmen.

Wer unter Zwängen leidet, den zwingt ein Tyrann im Kopf Dinge zu denken oder zu tun, die er nicht will, aber er muss.

Was sind Zwangsstörungen?
Zwangsstörungen zeigen sich in wiederkehrenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, die das emotionale Erleben der Betroffenen stark einschränken. „Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die den Patienten immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast immer quälend, der Patient versucht häufig erfolglos, Widerstand zu leisten. Angst ist meist ständig vorhanden. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, verstärkt sich die Angst deutlich“, definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Klassifikationssystem Zwangsgedanken.  
Zwangsgedanken werden in der Psychologie mit der Fehlbewertung von normalen, aufdringlichen Gedanken erklärt. Grundüberzeugungen, Einstellungen und Metakognitionen zu Gedanken, Gefühlen und Handlungen spielen eine Rolle bei der Anhaftung an Zwangsgedanken.

Wie können wir uns Zwangsgedanken vorstellen?
Die meisten von uns gar nicht. Trotz aller Empathie, wir können nicht fühlen, was andere fühlen und wir können nicht in den Kopf unseres Gegenübers hineinschauen. Wir können versuchen zu verstehen was der andere denkt und fühlt, aber es bleibt beim Versuch. Auch deshalb, weil sie sich nicht verstanden fühlen, fühlen sich viele Menschen innerlich einsam. Der Zwangserkrankte aber ist umso einsamer, weil seine innere Welt für Außenstehende absolut nicht nachzuvollziehen ist. Ich kenne Zwängler, die genau unter diesem "nicht verstanden werden" sehr leiden.

Das Leid des Zwangskranken
Im Kopf eines Zwangskranken lebt ein Tyrann, der ihm Dinge einredet von denen der Betroffene genau weiß, dass sie nicht real sind, sie aber dennoch glaubt. Auch wenn er sich hundertmal sagt, das sind nur Gedanken, er kann sich von diesen Gedanken nicht disidentifizieren. Auch wenn er die Realität überprüft, der Tyrann im Kopf ist hartnäckig und überflutet seine Gefühlswelt. Das ist das Fatale an der Zwangsstörung – die Betroffenen wissen um die Absurdität und Sinnlosigkeit ihrer Gedanken und Zwänge, sie wehren sich mit mentaler Kraft dagegen, doch sie müssen immer wieder erleben, dass die Gedanken und Impulse mächtiger sind als ihr klarer Verstand und ihr Wille.

Wie sehen Zwangsgedanken aus?
Zwangsgedanken können ganz alltäglichen Gedanken, Sorgen und Befürchtungen ähneln. Sie haben jedoch eine viel intensivere und bedrohlichere Qualität.
Oftmals handelt es sich um bizarre, absurde, rational schwer nachvollziehbare Gedanken mit Inhalten wie Vergiftung, Beschmutzung, Krankheiten, Ordnung, Aggression, Gewalt, Missbrauch, Sexualität und religiöse Inhalte.
Die Betroffenen erleben die Zwangsgedanken als destruktiv, inakzeptabel, quälend und in hohem Maße beschämend. Sie fragen sich: „Wie kann ich nur so denken? Ich weiß doch, dass ich „normal“ bin, ich weiß doch, dass ich das, was ich denke nicht wirklich tun will und tun werde“. Aber die irrationale Angst es doch irgendwann zu tun oder die Angst, dass ihnen angetan wird, was der Zwang ihnen vorgaukelt, ist immer da. 

Zwangsgedanken sind obsessiv, immens zeitraubend und seelisch extrem belastend. Sie schränken auf vielerlei Ebenen das Fühlen und Erleben der Betroffenen stark ein. Das Funktionieren im Alltag ist für diese Menschen eine Gratwanderung. Es ist ein Kampf, eine ständige Herausforderung, für manche ist es sogar eine Qual. Ständig ist da der Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Niemals ist Ruhe im Kopf.

Wieder und wieder produziert der Tyrann da Oben belastende, unangenehme, beängstigende Gedanken und die dazu gehörigen Vorstellungen. Er provoziert Handlungsimpulse (Intrusionen), die sich dem Betroffenen gegen den eigenen Willen aufdrängen. In der Folge kommt zu ritualisierten Gedanken- und Handlungsketten, die zwingend ausgeführt werden müssen, um die gedanklichen Befürchtungen zu neutralisieren. In Endlosschleife wird das Für und Wieder von Alternativen abgewägt um die einfachsten Entscheidungen des Lebens treffen zu können. Viele Zwangserkrankte vermeiden daher bekannte Auslöser und zeigen ein hohes Kontrollverhalten.

Zwangsgedanken können durch bestimmte Situationen ausgelöst werden oder wie ein Blitz aus heiterem Himmel in den Kopf einschlagen.
Der Zwängler kämpft jeden Tag gegen seine dysfunktionalen Gedanken wie Sisyphos mit seinem Stein. Es ist ein Leid ohne Ende, und nein, sie sind keine glücklichen Menschen. Wie auch? Sie erleben keine Selbstwirksamkeit was den eigenen Kopf angeht. Der Tyrann im Kopf entzieht sich ihrer Kontrolle. Er lässt sich nicht besänftigen und führt ein fieses Eigenleben. Die Betroffenen können beobachten wie sich da etwas in ihrem Kopf selbstständig macht, ein katastrophales Eigenleben führt und ihnen das Leben zur Hölle macht, aber sie können nichts dagegen tun. Es ist zum Verrücktwerden und manche Betroffene befürchten, dass dies irgendwann geschieht und sie komplett die Kontrolle verlieren.

Die Seele leidet unvorstellbar 
Immer wieder erfahren Zwangskranke Gefühle von Angst, Schuld, Scham, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Alles was sie versuchen führt zu keinem Erfolg. Viele Betroffene werden depressiv. Untersuchungen ergaben: Bis zu 50% der Zwangserkrankten haben irgendwann Selbstmordgedanken und bei einem Viertel kommt es zu Selbstmordversuchen.

Mit der Zeit entwickeln zwangserkrankte Menschen ein tiefes inneres Unbehagen. Die Hoffnung ein normales Leben führen zu können schwindet je länger die Krankheit besteht.
Unermüdlich versuchen sie alles um den Tyrann im Kopf irgendwie in Schach zu halten, ihn zu vertreiben oder zu besiegen. Zwangshandlungen, die Ritualcharakter haben, sollen die Angst reduzieren, die mit den destruktiven Gedanken einhergeht. Dysfunktionale Bewältigungsstrategien, wie der Versuch die Gedanken zu unterdrücken, das Vermeiden von auslösenden Situationen, die Rückversicherung durch nahestehende Menschen oder das Darüberlegen von hilfreichen positiv besetzten Gedanken, führen bisweilen zu einer kurzfristigen Selbstberuhigung, auf lange Sicht aber führt jeder innere Widerstand zu einer Aufrechterhaltung der Symptomatik, mehr noch, es kommt zur negativen Verstärkung der Zwangsgedanken.

Was sind die Ursachen?

Neurobiologische Ursachen  
Man geht heute davon aus, dass Zwänge auf Dysfunktionen mehrere Gehirnregionen zurückzuführen sind. Bei der Zwangsstörung sind es die Bereiche Frontalhirn, Basalganglien (Striatum) und Thalamus (zentralen Strukturen des Stammhirns) zu nennen. So hat die Neurobiologie herausgefunden, dass bei Zwangserkrankungen u.a. die dorsale und ventrale Schleife der Basalganglien von Veränderungen betroffen ist. Zu den Funktionen der ventralen Schleife gehört es bestimmte situationsangepasste Handlungen freizuschalten während gleichzeitig unangemessene Handlungen unterdrückt werden. Diese Schleifen sind entsprechend daran beteiligt, motorische wie kognitive Gewohnheiten aufzubauen. Hier scheinen bei Zwangsstörungen Fehler aufzutreten, denn die Störung verhindert, dass bestimmte Gewohnheiten, etwa die sich ständig wiederholenden Zwangshandlungen und Gedanken, dann unterdrückt werden, wenn sie unpassend sind. (Graybiel und Rauch, 2000)

In Anbetracht der impulshemmenden und beruhigenden Funktion des Serotonins sowie der motivierenden Funktion des Dopamins liegt die Vermutung nahe, dass Zwangsstörungen auch mit einer veränderten Funktion dieser beiden Systeme zusammenhängen. Eine Reihe weiterer Befunde unterstützt die Annahme, dass die serotogene und dopamine Erregungsverarbeitung bei Zwangsstörungen fehlerhaft ist. (Gerhard Roth, Wie das Gehirn die Seele macht)
Daher wird bei der Behandlung von Zwangsstörungen in den meisten Fällen ein Serotonin- Wiederaufnahmehemmer eingesetzt.

Gene und Biografie
Es lassen sich zwei weitere Ursachen die zur Entstehung einer Zwangsstörung führen können, finden: Die Genetische Disposition  und die Biografie des Betroffenen. Man geht davon aus, dass die Genetik etwa 30% der Ursachen ausmacht und die Biografie für die übrigen etwa 70% der Ursachen verantwortlich ist. Das bedeutet, dass bei Zwangsstörungen fast immer alle drei Faktoren mitspielen: Die Neurobiologie, die genetische Disposition und die kindliche Entwicklung, sprich Erziehung, Erlebnisse und Traumata.

Eine extreme Sauberkeitserziehung erkannte bereits Sigmund Freud als mitverantwortlich für die Entwicklung einer Zwangsstörung. Hohe Anforderungen und überzogene Leistungsansprüche der Eltern an das Kind, eine starke Überbehütung (Overprotection). Starre, ritualisierte und rigide Abläufe sind u.a. Erziehungsstile, die die Entstehung einer Zwangsstörung fördern können. Einen erheblichen Einfluss aber haben Traumata wie emotionaler und körperlicher Missbrauch, Gewalterfahrungen, Verluste, Trennungen von Bezugspersonen, der Tod eines geliebten Menschen oder alkoholkranke und aggressive Eltern(teile). All das können Auslöser für eine Zwangsstörung und die dazugehörigen destruktiven Gedanken sein. Ein geringes Selbstwertgefühl, daraus resultierende Minderwertigkeitskomplexe und rigide moralische und ethische Wertvorstellungen erhöhen das Risiko an einer Zwangsstörung zu erkranken.

Flexibilität ist der Feind der Zwangsstörung
Gibt es die typische Zwangspersönlichkeit? Studien ergaben: Von der Persönlichkeit her neigen zwangskranke Menschen zu Perfektionismus und kognitiver Starre. Auch meine Erfahrung mit Zwangserkrankten zeigt, diese Menschen beharren starr auf ihren inneren Überzeugungen. Sie tendieren dazu vieles kontrollieren zu wollen. Sie weigern sich, sich an Gewohnheiten oder Denkweisen anderer Menschen anzupassen und bestehen andererseits darauf, dass ihr Gegenüber sich ihren eigenen Überzeugungen und Gewohnheiten unterordnet. Sie beharren auf dem, was sie einmal als richtig befunden haben. Geistige Flexibilität fällt schwer. In vielen Dingen sind sie besonders vorsichtig. Wegen ihrer hohen Ansprüche an sich selbst und andere haben sie Schwierigkeiten sich Ziele zu setzen, Pläne zu verfolgen und Aufgaben zu erledigen. Aus Angst zu versagen sind sie bei allem was neu und unbekannt ist sehr zurückhaltend. Darüber hinaus haben die meisten Zwängler eine Gefühlstörung. Es gelingt ihnen nur schwer ihre Gefühle auszudrücken. Auf andere wirken sie oft unterkühlt und rational. Zwangskranke leben in einer eigenen, wenig flexiblen Welt, die einem Käfig gleicht, dessen Stäbe den intensiven Kontakt zum Leben vergittert.

Wie wird die Zwangsstörung behandelt? 
Es hat sich gezeigt, dass die kognitive Verhaltenstherapie, die darauf abzielt den Betroffenen zu einer Neubewertung von Zwangsgedanken anzuregen am hilfreichsten ist. Der Zwangserkrankte soll hier lernen die mentalen Ereignisse als Bewusstseinsstrom zu verstehen, den andere Menschen genauso erleben, ihn jedoch anders bewerten. Diese Form der Neubewertung der obsessiven Gedanken führt in der Regel dazu, dass es bei vielen Betroffenen zu einer seelischen Entlastung kommt. Der Zwängler lernt nach und nach Distanz zu seinem inneren Tyrannen einzunehmen, er lernt das Geschehen in seinem Kopf wertfrei wahrzunehmen und die Katastophisierung seiner Gedanken als Fehlbewertung zu erkennen. Therapeutisches Ziel ist es, die Zwangsgedanken als rein mentale Ereignisse zu bewerten und sie vorbei ziehen zu lassen. Das ist nicht leicht und es dauert lange bis dies gelingt. Auch hier geht es wie bei allen Veränderungsprozessen um Geduld, Selbstmitgefühl, Disziplin und Übung. Das Problem dabei ist: Da Zwängler ständig zweifeln und wenig mentale Flexibilität zulassen können, brauchen diese Menschen Kriterien mit deren Hilfe sie Zwangsgedanken von normalen Gedanken unterscheiden lernen können.
Daher sollen anhand von Verhaltensprotokollen die auslösenden Situationen, die Zwangsgedanken, deren Bewertung, die dazugehörige Gefühle und die bisherigen Bewältigungsstrategien beobachtet und analysiert werden. Betroffene sollen befähigt werden eine innere Distanz einzunehmen, mit anderen Worten: Sie müssen lernen sich mit den Zwangsgedanken nicht mehr zu identifizieren. Nach dem Motto: Ich HABE diese Gedanken, aber ich BIN nicht diese Gedanken.

Erkennen, Erforschen , Analysieren, Akzeptieren, nicht Identifizieren - exakt das, was auch in der Achtsamkeitspraxis erlernt wird.  
Die hilfreiche Übung der Achtsamkeit für den Zwängler bedeutet: Er lernt seine Aufmerksamkeit auf das bewusste Erleben im Augenblick zu lenken. Die Aufmerksamkeit wird so von der fokussierten, selektiven Wahrnehmung der zwangsauslösenden Stimuli auf den gegenwärtigen Moment gelenkt. Es gibt Hilfe für das müssen müssen. Der Weg zur seelischen Entlastung ist lang und er ist schwer und er ist Tag für Tag eine Herausforderung für die Betroffenen. Aber das Einzige was wirklich hilfreich ist um den Tyrann im Kopf zu entmachten ist: Übendes Tun.




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