Malerei: Angelika Wende |
"Kein Mensch muss müssen",
schrieb einst der Dichter Gotthold Ephraim Lessing.
Ist das wirklich wahr?
Es ist nicht wahr.
Wir müssen alle irgendetwas
und wir müssen das müssen, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen zum Beispiel essen,
trinken und all die anderen Dinge, die der Körper von uns verlangt, wollen wir
nicht zugrunde gehen. Und sterben müssen wir auch müssen. Bei allem anderen wie
z.B., dass wir arbeiten müssen um zu leben, streiten sich die Geister. Menschen mit Zwangsstörungen
allerdings können ein ganz anderes Lied vom müssen
müssen singen und es wäre ein Klagelied, würden sie es anstimmen.
Wer unter Zwängen leidet, den
zwingt ein Tyrann im Kopf Dinge zu denken oder zu tun, die er nicht will, aber
er muss.
Was sind Zwangsstörungen?
Zwangsstörungen zeigen sich
in wiederkehrenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, die das emotionale
Erleben der Betroffenen stark einschränken. „Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder
Impulse, die den Patienten immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie sind fast
immer quälend, der Patient versucht häufig erfolglos, Widerstand zu leisten.
Angst ist meist ständig vorhanden. Werden Zwangshandlungen unterdrückt, verstärkt
sich die Angst deutlich“, definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in
ihrem Klassifikationssystem Zwangsgedanken.
Zwangsgedanken werden in der
Psychologie mit der Fehlbewertung von normalen, aufdringlichen Gedanken
erklärt. Grundüberzeugungen,
Einstellungen und Metakognitionen zu Gedanken, Gefühlen und Handlungen spielen eine
Rolle bei der Anhaftung an Zwangsgedanken.
Wie können wir uns Zwangsgedanken vorstellen?
Die meisten von uns gar
nicht. Trotz aller Empathie, wir können nicht fühlen, was andere fühlen und wir
können nicht in den Kopf unseres Gegenübers hineinschauen. Wir können versuchen
zu verstehen was der andere denkt und fühlt, aber es bleibt beim Versuch. Auch deshalb, weil sie sich nicht verstanden fühlen, fühlen sich viele Menschen innerlich einsam. Der Zwangserkrankte aber
ist umso einsamer, weil seine innere Welt für Außenstehende absolut nicht
nachzuvollziehen ist. Ich kenne Zwängler, die genau unter diesem "nicht
verstanden werden" sehr leiden.
Das Leid des Zwangskranken
Im Kopf eines Zwangskranken lebt
ein Tyrann, der ihm Dinge einredet von denen der Betroffene genau weiß, dass
sie nicht real sind, sie aber dennoch glaubt. Auch wenn er sich hundertmal sagt, das sind nur Gedanken, er kann sich von diesen Gedanken nicht disidentifizieren. Auch wenn er
die Realität überprüft, der Tyrann im Kopf ist hartnäckig und überflutet seine
Gefühlswelt. Das ist das Fatale an der Zwangsstörung – die
Betroffenen wissen um die Absurdität und Sinnlosigkeit ihrer Gedanken und
Zwänge, sie wehren sich mit mentaler Kraft dagegen, doch sie müssen immer
wieder erleben, dass die Gedanken und Impulse mächtiger sind als ihr klarer
Verstand und ihr Wille.
Wie sehen Zwangsgedanken aus?
Zwangsgedanken können ganz alltäglichen Gedanken, Sorgen und Befürchtungen
ähneln. Sie haben jedoch eine viel intensivere und bedrohlichere Qualität.
Oftmals handelt es sich um bizarre, absurde, rational schwer nachvollziehbare Gedanken mit Inhalten wie
Vergiftung, Beschmutzung, Krankheiten, Ordnung, Aggression, Gewalt, Missbrauch, Sexualität
und religiöse Inhalte.
Die Betroffenen erleben die Zwangsgedanken
als destruktiv, inakzeptabel, quälend und in hohem Maße beschämend. Sie fragen
sich: „Wie kann ich nur so denken? Ich weiß doch, dass ich „normal“ bin, ich
weiß doch, dass ich das, was ich denke nicht wirklich tun will und tun werde“. Aber
die irrationale Angst es doch irgendwann zu tun oder die Angst, dass ihnen angetan wird,
was der Zwang ihnen vorgaukelt, ist immer da.
Zwangsgedanken sind obsessiv,
immens zeitraubend und seelisch extrem belastend. Sie schränken auf vielerlei
Ebenen das Fühlen und Erleben der Betroffenen stark ein. Das Funktionieren im
Alltag ist für diese Menschen eine Gratwanderung. Es ist ein Kampf, eine ständige
Herausforderung, für manche ist es sogar eine Qual. Ständig ist da der Zweifel
an der eigenen Wahrnehmung. Niemals ist Ruhe im Kopf.
Wieder und wieder produziert
der Tyrann da Oben belastende, unangenehme, beängstigende Gedanken und die dazu
gehörigen Vorstellungen. Er provoziert Handlungsimpulse (Intrusionen), die sich
dem Betroffenen gegen den eigenen Willen aufdrängen. In der Folge kommt zu ritualisierten
Gedanken- und Handlungsketten, die zwingend ausgeführt werden müssen, um die
gedanklichen Befürchtungen zu neutralisieren. In Endlosschleife wird das Für
und Wieder von Alternativen abgewägt um die einfachsten Entscheidungen des
Lebens treffen zu können. Viele Zwangserkrankte vermeiden daher bekannte Auslöser
und zeigen ein hohes Kontrollverhalten.
Zwangsgedanken können durch bestimmte Situationen
ausgelöst werden oder wie ein Blitz aus heiterem Himmel in den Kopf
einschlagen.
Der Zwängler kämpft jeden Tag
gegen seine dysfunktionalen Gedanken wie Sisyphos mit seinem Stein. Es ist ein
Leid ohne Ende, und nein, sie sind keine glücklichen Menschen. Wie auch? Sie erleben
keine Selbstwirksamkeit was den eigenen Kopf angeht. Der Tyrann im Kopf entzieht
sich ihrer Kontrolle. Er lässt sich nicht besänftigen und führt ein fieses
Eigenleben. Die Betroffenen können beobachten wie sich da etwas in ihrem Kopf
selbstständig macht, ein katastrophales Eigenleben führt und ihnen das Leben zur Hölle macht, aber sie
können nichts dagegen tun. Es ist zum Verrücktwerden und manche Betroffene
befürchten, dass dies irgendwann geschieht und sie komplett die Kontrolle
verlieren.
Die Seele leidet unvorstellbar
Immer wieder erfahren Zwangskranke
Gefühle von Angst, Schuld, Scham, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Alles was
sie versuchen führt zu keinem Erfolg. Viele
Betroffene werden depressiv. Untersuchungen ergaben: Bis zu 50% der Zwangserkrankten
haben irgendwann Selbstmordgedanken und bei einem Viertel kommt es zu
Selbstmordversuchen.
Mit der Zeit entwickeln
zwangserkrankte Menschen ein tiefes inneres Unbehagen. Die Hoffnung ein
normales Leben führen zu können schwindet je länger die Krankheit besteht.
Unermüdlich versuchen sie alles
um den Tyrann im Kopf irgendwie in Schach zu halten, ihn zu vertreiben oder zu
besiegen. Zwangshandlungen, die Ritualcharakter haben, sollen die Angst
reduzieren, die mit den destruktiven Gedanken einhergeht. Dysfunktionale Bewältigungsstrategien,
wie der Versuch die Gedanken zu unterdrücken, das Vermeiden von auslösenden Situationen,
die Rückversicherung durch nahestehende Menschen oder das Darüberlegen von hilfreichen
positiv besetzten Gedanken, führen bisweilen zu einer kurzfristigen
Selbstberuhigung, auf lange Sicht aber führt jeder innere Widerstand zu einer Aufrechterhaltung der Symptomatik, mehr noch, es kommt
zur negativen Verstärkung der Zwangsgedanken.
Was sind die Ursachen?
Neurobiologische Ursachen
Man geht heute davon aus,
dass Zwänge auf Dysfunktionen mehrere Gehirnregionen zurückzuführen sind. Bei der
Zwangsstörung sind es die Bereiche Frontalhirn, Basalganglien (Striatum) und
Thalamus (zentralen Strukturen des Stammhirns) zu nennen. So hat die Neurobiologie
herausgefunden, dass bei Zwangserkrankungen u.a. die dorsale und ventrale Schleife
der Basalganglien von Veränderungen betroffen ist. Zu den Funktionen der
ventralen Schleife gehört es bestimmte situationsangepasste Handlungen
freizuschalten während gleichzeitig unangemessene Handlungen unterdrückt
werden. Diese Schleifen sind entsprechend daran beteiligt, motorische wie
kognitive Gewohnheiten aufzubauen. Hier scheinen bei Zwangsstörungen Fehler
aufzutreten, denn die Störung verhindert, dass bestimmte Gewohnheiten, etwa
die sich ständig wiederholenden Zwangshandlungen und Gedanken, dann unterdrückt
werden, wenn sie unpassend sind. (Graybiel und Rauch, 2000)
In Anbetracht der
impulshemmenden und beruhigenden Funktion des Serotonins sowie der
motivierenden Funktion des Dopamins liegt die Vermutung nahe, dass
Zwangsstörungen auch mit einer veränderten Funktion dieser beiden Systeme
zusammenhängen. Eine Reihe weiterer Befunde unterstützt die Annahme, dass die
serotogene und dopamine Erregungsverarbeitung bei Zwangsstörungen fehlerhaft
ist. (Gerhard Roth, Wie das Gehirn die Seele macht)
Daher wird bei der Behandlung
von Zwangsstörungen in den meisten Fällen ein Serotonin- Wiederaufnahmehemmer
eingesetzt.
Gene und Biografie
Es lassen sich zwei weitere Ursachen
die zur Entstehung einer Zwangsstörung führen können, finden: Die Genetische
Disposition und die Biografie des Betroffenen.
Man geht davon aus, dass die Genetik etwa 30% der Ursachen ausmacht und die
Biografie für die übrigen etwa 70% der Ursachen verantwortlich ist. Das
bedeutet, dass bei Zwangsstörungen fast immer alle drei Faktoren mitspielen: Die
Neurobiologie, die genetische Disposition und die kindliche Entwicklung, sprich Erziehung, Erlebnisse und Traumata.
Eine extreme
Sauberkeitserziehung erkannte bereits Sigmund Freud als mitverantwortlich für
die Entwicklung einer Zwangsstörung. Hohe Anforderungen und überzogene
Leistungsansprüche der Eltern an das Kind, eine starke Überbehütung (Overprotection). Starre, ritualisierte und rigide Abläufe sind u.a. Erziehungsstile, die
die Entstehung einer Zwangsstörung fördern können. Einen erheblichen Einfluss aber
haben Traumata wie emotionaler und körperlicher Missbrauch, Gewalterfahrungen, Verluste, Trennungen von Bezugspersonen, der Tod eines geliebten
Menschen oder alkoholkranke und aggressive Eltern(teile). All das können Auslöser für eine
Zwangsstörung und die dazugehörigen destruktiven Gedanken sein. Ein geringes Selbstwertgefühl,
daraus resultierende Minderwertigkeitskomplexe und rigide moralische und
ethische Wertvorstellungen erhöhen das Risiko an einer Zwangsstörung zu
erkranken.
Flexibilität ist der Feind der Zwangsstörung
Gibt es die typische Zwangspersönlichkeit? Studien ergaben: Von der Persönlichkeit her
neigen zwangskranke Menschen zu Perfektionismus und kognitiver Starre. Auch meine Erfahrung mit Zwangserkrankten zeigt, diese Menschen beharren
starr auf ihren inneren Überzeugungen. Sie tendieren dazu vieles kontrollieren zu wollen. Sie weigern
sich, sich an Gewohnheiten oder Denkweisen anderer Menschen anzupassen und bestehen andererseits darauf,
dass ihr Gegenüber sich ihren eigenen Überzeugungen und Gewohnheiten unterordnet. Sie beharren auf dem,
was sie einmal als richtig befunden haben. Geistige Flexibilität fällt schwer. In vielen Dingen sind sie besonders vorsichtig.
Wegen ihrer hohen Ansprüche an sich selbst und andere haben sie
Schwierigkeiten sich Ziele zu setzen, Pläne zu verfolgen und Aufgaben zu erledigen. Aus Angst zu
versagen sind sie bei allem was neu und unbekannt ist sehr zurückhaltend. Darüber hinaus haben die
meisten Zwängler eine Gefühlstörung. Es gelingt ihnen nur schwer ihre Gefühle
auszudrücken. Auf andere wirken sie oft unterkühlt und rational. Zwangskranke leben in einer
eigenen, wenig flexiblen Welt, die einem Käfig gleicht, dessen Stäbe den intensiven Kontakt zum Leben vergittert.
Wie wird die Zwangsstörung
behandelt?
Es hat sich gezeigt, dass die
kognitive Verhaltenstherapie, die darauf abzielt den Betroffenen zu einer
Neubewertung von Zwangsgedanken anzuregen am hilfreichsten ist. Der Zwangserkrankte soll hier lernen die mentalen Ereignisse als Bewusstseinsstrom zu verstehen, den andere Menschen genauso erleben, ihn jedoch anders bewerten. Diese Form der Neubewertung der
obsessiven Gedanken führt in der Regel dazu, dass es bei vielen Betroffenen zu einer seelischen
Entlastung kommt. Der Zwängler lernt nach und nach Distanz zu seinem inneren Tyrannen
einzunehmen, er lernt das Geschehen in seinem Kopf wertfrei wahrzunehmen und
die Katastophisierung seiner Gedanken als Fehlbewertung zu erkennen. Therapeutisches
Ziel ist es, die Zwangsgedanken als rein mentale Ereignisse zu bewerten und sie
vorbei ziehen zu lassen. Das ist nicht leicht und es dauert lange bis dies gelingt. Auch hier geht es wie bei
allen Veränderungsprozessen um Geduld, Selbstmitgefühl, Disziplin und Übung. Das
Problem dabei ist: Da Zwängler ständig zweifeln und wenig mentale Flexibilität zulassen
können, brauchen diese Menschen Kriterien mit deren Hilfe sie
Zwangsgedanken von normalen Gedanken unterscheiden
lernen können.
Daher sollen anhand von Verhaltensprotokollen die auslösenden Situationen, die Zwangsgedanken,
deren Bewertung, die dazugehörige Gefühle und die bisherigen Bewältigungsstrategien
beobachtet und analysiert werden. Betroffene sollen befähigt werden eine innere Distanz einzunehmen,
mit anderen Worten: Sie müssen lernen sich mit den Zwangsgedanken nicht mehr zu identifizieren.
Nach dem Motto: Ich HABE diese Gedanken, aber ich BIN nicht diese Gedanken.
Erkennen, Erforschen ,
Analysieren, Akzeptieren, nicht Identifizieren - exakt das, was auch in der
Achtsamkeitspraxis erlernt wird.
Die hilfreiche Übung der Achtsamkeit für den Zwängler bedeutet: Er lernt seine Aufmerksamkeit auf das
bewusste Erleben im Augenblick zu lenken. Die Aufmerksamkeit wird so von der fokussierten, selektiven Wahrnehmung
der zwangsauslösenden Stimuli auf
den gegenwärtigen Moment gelenkt. Es gibt Hilfe für das müssen
müssen. Der Weg zur seelischen Entlastung ist lang und er ist schwer und er ist Tag für Tag eine Herausforderung für die Betroffenen. Aber das
Einzige was wirklich hilfreich ist um den Tyrann im Kopf zu entmachten ist: Übendes Tun.
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