Sonntag, 23. März 2014

AUS DER PRAXIS – Über die therapeutische Dimension des Tagebuchschreibens oder vom Sinn der autobiografischen Selbstreflexion




Heute Morgen stand ich mit einer Mischung aus Zweifeln und Neugier vor den letzten ungeöffneten Umzugskartons, prall voll mit einer Unzahl an Tagebüchern, in meiner neuen Behausung.
Ich habe lange überlegt, ob ich die Kartons samt Inhalt einfach in die Tonne werfen soll. Ich bin im Reduzierungsmodus und das, dachte ich, ist doch eine gute Gelegenheit mich von  Ballast zu befreien, der mir Platz nimmt für das Neue, das in mein Leben treten soll. Reduzieren heißt nichts anderes, als Platz schaffen, für die Dinge, die wir wirklich brauchen. Also, habe ich mich gefragt: Hand aufs Herz, brauchst du die alten Tagebücher wirklich?  
Die Neugier war stärker als der Wunsch nach Reduktion. Also habe ich einen Karton geöffnet, eins meiner alten Tagebücher herausgenommen, mich in den Sessel in meinem Arbeitsraum gekuschelt und die erste Seite aufgeschlagen. Eine Stunde später hatte ich es ausgelesen. Es war erstaunlich zu erfahren wie ich vor noch nicht allzu langer Zeit gefühlt und gedacht habe, über die Dinge wie sie sind und wie sie nicht sind und ich stellte fest, es hat sich eine Menge verändert in meinem Denken und Fühlen seit damals. Ich war zufrieden mit dieser Erkenntnis und dachte: „Wow, du hast eine erstaunliche Entwicklung gemacht.“ Zur Belohnung gab es einen zweiten Milchkaffee und ein „Danke!“ ans Universum.
Schreiben ist autobiografische Selbstreflexion. Das kann jeder bestätigen, der Tagebuch führt. Wenn wir unsere Erlebnisse und Erfahrungen schreibend aufgreifen und niederschreiben tun wir Zweierlei: Wir gestalten, Wort für Wort, in geschriebener Sprache, und damit sind wir schöpferisch tätig. Tagebuch schreiben ist viel mehr als uns Worte gefügig zu machen um unser Innerstes auf weiße Seiten zu bannen, es ist ein Tauchgang in die eigene Tiefe. 
Wenn wir über das schreiben, was uns bewegt, halten wir nicht nur fest, was uns im Leben begegnet, wir holen quasi absichtslos unser Unbewusstes nach oben, wir entdecken unsere unbewussten Neigungen und Wünsche. Der kontinuierliche Schreibprozess führt uns immer wieder zu ähnlichen Themen, die in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen. Wir erkennen zum Beispiel, was uns fehlt und was wir wirklich wollen.
Tagebuch schreiben erweitert und öffnet die Sicht auf die Anteile unseres Wesens, die im Alltagstrott untergehen. Es ist nicht neu, dass sich dieses Phänomen therapeutisch nutzen lässt. Ähnlich wie das Gespräch in der Therapiestunde ist Schreiben eine Form des Selbstausdrucks. Wir drücken aus was sich im Laufe des Tages in uns eindrückt und durch den Akt des Niederschreibens entlasten wir uns von Bedrückendem. Wir kommen ins Handeln, indem wir aufschreiben was in uns vorgeht, und das Wunderbare ist – wir fühlen und sehen das Ergebnis unseres Handelns unmittelbar. Wir geben unserer Kreativität Raum während die Hand mit dem Stift über das Papier gleitet und wir verwandeln uns gleichzeitig in den Beobachter unserer eigenen kleinen Welt, innen wie außen, wir bekommen nicht nur Einsichten in das Beobachtete, wir kommen uns selbst näher – unseren wahren Gefühlen und Gedanken, unseren Hoffnungen und Wünschen, unseren Freuden und unseren Ängsten und auch den Dingen, von denen wir mehr machen und jenen, die wir lassen sollten.
Einem guten Freund hat das Schreiben sogar zu einem Wunder verholfen. Er hat es geschafft mit Hilfe des Tagebuchschreibens sein Alkoholproblem in den Griff zu bekommen, weil er es nicht mehr ertragen konnte, dass er jeden Morgen nach einem versoffenen Abend hineinschrieb wie mies er sich nach dem Aufwachen fühlt und wie ungut das Gift für seinen Körper, seine Seele und seine Beziehungen ist. Bis heute ist er trocken.
Das Wunder beim Schreiben ist – wir sind ehrlich zu uns selbst, wir müssen uns nicht verstellen, nichts verschweigen, was nicht sein darf oder von anderen nicht gehört werden darf, wir kommen zu unserer eigenen Wahrheit und sie liegt vor uns, schwarz auf weiß. So klar, dass wir die Augen nicht mehr davor verschließen können und irgendwann ändern, was zu ändern ist und tun, was zu tun ist.
Worte sind eine Form des Handelns und sie sind fähig Veränderungen zu bewirken.
Das Tagebuchschreiben ist eine Kraftquelle und zugleich eine wirksame Methode unsere Kreativität zu pflegen oder wenn sie blockiert ist, wiederzuerwecken. Ich schreibe Tagebuch seit ich denken kann und ich schlage jedem meiner Klienten vor es zu tun. Es ist ungeheuer befreiend all das Zeug niederzuschreiben, das zwischen uns und unserem Leben steht, dem Leben, das wir uns wünschen und das wir verdient haben, weil wir wertvoll sind. All das Wertlose ist das kleinliche, sinnlose, ärgerliche, Wut und Frust machende Zeug, das wir zulassen, weil wir es im täglichen Hamsterrad gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. 

Tagebuchschreiben fördert die Wahrnehmung und zwar auf das Unwesentliche und auf das Wesentliche.
Nun meint so mancher: "Ich kann nicht schreiben, ich habe es nicht mit den Worten, oder: "Das muss doch gut klingen, was ich da rein schreibe und außerdem, für so was habe ich keine Zeit."
Ist das wirklich wahr?
Nein.
1. Jeder kann schreiben. Es ist das Erste, das wir lernen, wenn wir in die Schule gehen.
2. Wir alle haben es mit den Worten, sie sind das Mittel, das wir jeden Tag benutzen um in dieser Welt zu kommunizieren, meist mit anderen. Also warum nicht mit dem wichtigsten Menschen in unserem Leben kommunizieren?
3. Wir haben Zeit! Ziehen wir die Zeit ab, die wir an Unwesentliches verschwenden, haben wir unendlich viel Zeit und damit auch Zeit für uns selbst.
Tagebuchschreiben ist Nahrung für die Seele, allein dadurch, dass wir sie hören und dadurch, dass sie gehört werden darf, endlich und zwar mit Allem was sie beschäftigt, im Guten wie im Unguten. Das Tagebuch ist kein Zensor, es ist ein geschützter Raum in dem alles, aber auch alles, seinen Platz haben darf, es ist ein Ort, an dem wir unser reizüberflutetes Gehirn entmüllen dürfen und zwar ohne Wertung von Außen und von Innen, sprich – durch uns selbst. Es geht nicht darum uns wieder einen Platz zu suchen, an dem wir uns selbst beurteilen oder verurteilen für das, was nicht ist und was wir nicht sind, oder für das, wie wir es gern hätten und wie wir gerne wären – es geht darum einen sicheren inneren Ort zu besitzen, der uns als der Mensch aufnimmt, der wir zu diesem Zeitpunkt, an dem wir schreiben, sind. 

Das Tagebuch ist ein Ort, an dem wir mit uns selbst in Verbindung treten.
Aus all diesen Gründen ist das Führen eines Tagebuchs eine der hilfreichsten Methoden um Ordnung in unser Innenleben zu bringen. Indem wir schreibend über uns selbst nachdenken gegen wir einen kreativen Weg der uns hilft unsere eigene Identität fassbar zu machen. Und das Beste an allem: Schreiben hat etwas zutiefst Meditatives und führt zur Stressreduzierung.

Ach, fast hätte ich es beim Schreiben vergessen – ich habe die Kartons in aller Muße ausgeräumt und mein in Worte gefasstes bisheriges Leben mit Achtung und Dankbarkeit behutsam ins Bücherregal gelegt.



2 Kommentare:

  1. Ich schreibe auch Tagebuch, d. h. Tagebücher. Meins schreibe ich noch täglich. Die meiner Mädels habe ich geführt bis zu deren 18. Lebensjahr.
    Es war stets eine Menge *Arbeit*, eine Zeitfrage oft. Doch keinen Tag habe ich ausgelassen. Dann, zu den 18. Geburtstagen, habe ich die Tagebücher zum Geschenk gemacht. Noch heut sprechen meine Mädels vom besten Geschenk des Universums, lächel. So wissen sie das erste Lächeln, das Zahnen, den ersten Töpfchengang usw... Erinnerungen, die sie nicht bewusst erlebten und jetzt so gut nachvollziehen können....

    LG, Edith

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  2. ... das beste geschenk des universums :-)

    lg angelika

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