Freitag, 7. September 2012

ANGST VI





ich habe angst, sagte sie. seit jahren und sie wird immer größer.
sie wird mich auffressen, ich spüre es.
sie weinte.

er sah sie an, was macht dir angst?

ich weiß es nicht nicht genau.
ich glaube, ich fühle mich schuldig.

wir haben alle irgendwie schuldgefühle, das ist menschlich, sagte er. kein grund angst zu haben.

nein, es ist mehr, ich habe mich schuldig gemacht. schuld und schuldgefühle sind nicht das gleiche. schuld bedeutet, du hast jemanden bewusst geschadet. schuldgefühle machst du dir, wegen etwas oder man macht sie dir.

wem hast du geschadet, ich verstehe nicht. er schüttelte den kopf, das ist doch unsinn!

sie schwieg eine weile.

doch, ich habe schuld auf mich geladen. 
sie sah durch ihn hindurch.

wem hast du denn bewusst geschadet? 

ich habe mir selbst geschadet.
ich bin an mir selbst schuldig geworden.

also gut, dann sag mir, was hast du dir angetan?

ich habe mich nicht verwirklicht. ich habe meine potentiale verkommen lassen, sie nicht genutzt, wie es möglich gewesen wäre, nicht alles mögliche getan.

das verstehe ich nicht, sagte er.

oh doch, sie nickte müde mit dem kopf, man macht sich schuldig, wenn man die eigene existenz ungenügend verwirklicht.

glaubst du wirklich?

ja, sagte sie.

und wovor hast du angst?

ich glaube ich habe angst vor dem tod.  er ist das ende meines zu wenig gelebten lebens.