Mittwoch, 21. Dezember 2011

ZWINGEND

da war sie wieder die stimme in ihrem kopf.

leise, dann immer lauter drang sie in all die anderen gedanken, schob sie zu seite, breitete sich aus, unüberhörbar.

lisa hielt sich die ohren zu. es half nichts. sie wusste es, die stimme kam nicht von aussen, es war nutzlos sich die ohren zuzuhalten. sie hatte sich lange gewehrt, maßnahmen ergriffen um sie nicht zu hören, über sie hinweg zu hören oder durch sie hindurch. sie hatte das radio angestellt, eine cd in den cd player geschoben und sich die kopfhörer aufgesetzt, sie hatte sich unter die dusche gestellt, das wasser laufen lassen, am anfang und immer wieder, bis sie begriff - es waren untaugliche versuche. lisas lösungsstrategien waren begrenzt, das laute der stimme unbegrenzt.

sie war unberechenbar. wann sie sich meldete konnte lisa nicht vorhersagen. die stimme hatte ein eigenleben, in ihr, ihrem leben, war gewachsen mit ihr wie eine pflanze. wie efeu, dachte lisa, wildwuchs. ein überwucherndes wildes, das nicht auszumerzen war.

in ihren ohren dröhnte es. geh weg, forderte sie die stimme auf, leise, dann lauter gegen die stimme ansprechend. die stimme lauter werdend mit lisas lautem, lachte höhnisch: du taugst nichts, aus dir wird nichts. das war noch auszuhalten. dann folgte der satz, der immer folgte, unweigerlich als letzter aller sätze: du bist die nachgeburt, die wir großgezogen haben.

dia nachgeburt, die raus kam, nachdem das kind geboren war. ein blutiger klumpen nutzlos gewordenenen mutterkuchens, rohes fleisch. anfangs ekelte sie sich vor dem bild, dann vor sich selbst. der ekel hatte den waschzwang ausgelöst. die weiß verbundenen hände über die ohren legend, dachte lisa an den vater.

sie hatte ihm nichts recht machen können. sie hatte es versucht. der vater sah sie nicht, wollte sie nicht sehen. warum das so war wusste sie nicht, beschloss, dass er es nicht konnte, weil sie kein recht hatte zu sein.

später sagte er einmal, sie habe sein leben zerstört mit ihrem dasein und das leben der mutter, die vieles gewollt hatte nur lisa nicht, dass es ein unfall gewesen sei ihr leben. ein unfall, der blutige klumpen, der sie war. das war stimmig. sie hatte sich unsichtbar gemacht dann. ein stilles kind, das gut lernte, aber sich nicht meldete im unterricht. ein unauffälliges mädchen. auffällig geworden, als es zur frau zu werden begann. die wachsende brust mit tüchern wegebunden. die haare kurz geschoren und immer allein im zimmer nach der schule, den vater nicht stören wollend. die mutter sich selbst beklagend, weinflaschen im nachttisch versteckend, resignierte traurigkeit wie eine anklage dem kind entgegen haltend.

lisa wollte sich auflösen, wusch es ab das sichauflösenwollende, hundert mal am tag. die hände verbunden wie die brust, dann.

die stimme schwieg. lisa weinte ein bisschen, holte die salbe aus dem schränkchen im badezimmer, wickelte den weißen verband auf, sah den blutigen klumpen rohes fleisch in beiden händen. sie musste ihn abwaschen, zwingend.