"Was ist mit uns geschehen, dass es so viele betrifft? Was ist auf kollektiver Ebene irgendwann mit uns geschehen?" Eine sehr gute Frage, die eine Leserin, aufgrund meines Textes über Selbstisolation, gestellt hat. Ich habe nachgedacht, ich denke schon lange darüber nach, denn ich erlebe immer mehr einsame Menschen, die zu mir kommen.
Fakt ist: Unsere Gesellschaft versingelt immer mehr.
Fakt ist: Wir bewegen uns in Richtung kollektive Einsamkeit.
Aber wann hat das begonnen?
Es hat begonnen, als wir in das Stadium des modernen Individualismus eingetreten sind.
Manche
meinen, das sei so seit der Coronapandemie. So ist es nicht. Die
Pandemie und die Maßnahme, Menschen voneinander zu isolieren, hat das
soziale Virus „Individualismus“ nur verstärkt und es bewusster gemacht.
Nicht ohne Grund, wie ich meine: Damit wir endlich hinsehen, wo wir
kollektiv hindriften. Geholfen hat es wenig, auf politischer Ebene
ist das Thema Einsamkeit, im Gegensatz zu England, das längst ein
Einsamkeitsministerium hat, bei uns nicht angekommen.
Schon lange vor der Pandemie sprechen Psychologen von einem Trend zur Vereinzelung.
Hans-Joachim
Maaz geht in seinem Psychogramm: „Die narzisstische Gesellschaft“ auf
Ursachenforschung, was Individualismus und Narzissmus kollektiv mit uns
machen.
In seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“, geht
aktuell der Publizist Martin Hecht diesem Thema auf den Grund. Er
spricht vom radikalen Ich, das unsere Demokratie bedroht und warnt
davor, dass der moderne Individualismus zunehmend zu einer Gefahr für
den Zusammenhalt im Kollektiv wird.
Diana Kinnert setzt sich in
ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ mit alter und neuer Einsamkeit
auseinander und stellt fest: Eine neue Einsamkeit greift, unabhängig von
Corona, immer weiter um sich. Die Gründe hierfür sieht sie darin, dass
unsere Gesellschaft auf Konsum statt Intimität, Flexibilität statt
Verbindlichkeit, und immer mehr Gewinn statt Stabilität ausgerichtet
ist.
Höher, schneller, weiter – das ist das Lebensmotto vieler.
Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und persönliche Freiheit werden als
hohes Gut angesehen.Jeder ist sich selbst der Nächste, was das eigene
Ich und dessen Verwirklichung stört, muss weg.
Haben statt sein.
Damit
hat sich schon Erich Fromm in seinem Buch "Haben oder Sein" im Jahre
1976 auseinandergesetzt und eindringlich davor gewarnt, dass eine
Gesellschaft, die vom Streben nach Besitz und markt- und
konsumorientierten „Haben“ dominiert wird, scheitern wird.
Das zeigt sich jetzt immer deutlicher.
Der
Individualismus, der kollektive Narzissmus, der Selbstoptimierungswahn
und die Egozentriertheit vieler Menschen fordert ihren Preis: Der Mensch
entfremdet sich von sich selbst und damit in der Folge von seinem
Nächsten. Er dreht sich nur noch um sich selbst, er bespiegelt sich
selbst und am Ende muss er feststellen: Individualismus macht allein.
Aber was ist Individualismus überhaupt?
Individualismus
definiert eine Anschauung und Geisteshaltung, die dem Individuum und
seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt. Eine
Haltung also, die auf die Entfaltung und das Wohlergehen der eigenen
Persönlichkeit ausgerichtet ist und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu
einer Gemeinschaft wenig Raum lässt. Die Folge: Eine individualistisch
orientierte Gesellschaft, die sich durch lose, unverbindlichere soziale
Bindungen auszeichnet.
Das eigene Ich wird zum Maß aller Dinge. Und so reden sie auch, die Meisten: von sich. Und so denken sie auch die Meisten: an sich. Ich, ich, ich …
Und dann kommt lange nichts oder nur das, was dem Ich nützlich ist und was es brauchen kann.
Eine
Geisteshaltung, die natürlicherweise ihren Preis hat: nämlich die
Zersplitterung eines Gemeinsamkeitsgedankens und der Verlust des
Bewusstseins des Einzelnen für das Ganze.
Verbundenheit fehlt, ein
menschliches Miteinander fehlt, lebendiger Kontakt, der mit allen Sinnen
erlebt wird, fehlt. All das wird ersetzt durch die virtuelle Welt, die
uns vorgaukelt – wir sind verbunden.
Alles Schimäre weiter nichts!
Denn
hunderte Freunde auf Facebook oder tausende Follower auf Instagram
simulieren lediglich eine illusionistische Verbundenheit, die in der
realen Welt nicht existiert.
Flashfull Fantasy, die an der Realität
zerplatzt, dann nämlich, wenn uns bewusst wird, wie allein wir da vor
unseren Handys und PC´s sind, während wir das Leben unserer sogenannten
Freunde betrachten, liken und kommentieren, Menschen, die wir meist
nicht einmal kennen.
Der Mensch selbst ist nicht nur Konsument, er ist selbst zum Konsumgut geworden.
Er
konsumiert und wird konsumiert. Tinder z.B., das Online Warenhaus in
dem ich mir, nach dem Motto: Wisch und weg und Match! einen One Night
Stand bestelle, denn eine echte Beziehung wollen die meisten gar nicht.
Das Leben mit dem eigenen Ich ist anstrengend genug.
Es geht noch krasser.
Manch
einer verliebt sich in eine(n) KI-Chatbot, der/die ihm vorgaukelt, er
sei in einer echten Beziehung. Eine Beziehung, die nur seine eigenen
Bedürfnisse erfüllt, nichts von ihm fordert und ihm die tägliche Dosis
Honig ums Maul schmiert um sein Ego zu streicheln, auf dass es weiter
wachsen möge.
Ich, ich, ich …
Das moderne Ich holt sich seine
Bedeutung vornehmlich virtuell.
Geredet wird auch nicht mehr viel, wenn
nicht unbedingt nötig, es wird What´s appt, zugetextet, wie ich es
nenne. Texten ist weniger anstrengend und zeitaufwendig als ein
echter Dialog mit einem leibhaftigen Gegenüber. Vornehmlich wird
mitgeteilt, es werden Gifs und flache Sprüche versendet – ein Mist, den
kein Mensch braucht. Alles um das eigene Selbstgefühl zu stärken.
Man
textet einander, man kann sich einreden, dass man im Innern des anderen
präsent ist, eine Bedeutung in seinem Leben zu haben, auch wenn der
andere einer ist, den man noch nie im richtigen Leben gesehen hat.
Unbemerkt bleiben, nicht vorhanden sein für andere, ist das Schlimmste.
Aber in Wahrheit ist es bei immer mehr Menschen genauso. Wer
seine Bedeutung und damit sein Selbstwertgefühl auf diese Weise zu
stärken versucht, baut auf Sand, er stützt sich auf etwas, das so
schnell verrinnt, wie sein Getexte. Zurück bleiben Individualisten, die sich mit der Einsamkeit abfinden müssen, wenn sich nicht radikal etwas ändert.
Die
Heilung des Individuums hat nicht viel Sinn ohne das Streben nach einer
besseren Gesellschaft.
Wieviel Sinn hat es, Individuen von seelischen
Krankheiten zu heilen, aber nicht vor den Gefahren zu warnen, die durch
eine individualistisch-narzisstische Gesellschaft drohen, die eine
gesunde Gesellschaft zunichte machen? Unsere Aufgabe ist es
einander zu ermutigen, hinzuschauen, uns wieder einander zuzuwenden und
uns unserer Verantwortung für das Ganze bewusst zu werden, uns ihr zu
stellen und sie zu übernehmen. Tun wir das? Nein. Die meisten tun es
nicht. Viele sind gleichgültig oder tun so als sei alles in Ordnung.
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