Mittwoch, 4. Oktober 2023

Individualismus - Nachtrag zum Thema Selbstisolierung

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"Was ist mit uns geschehen, dass es so viele betrifft? Was ist auf kollektiver Ebene irgendwann mit uns geschehen?" Eine sehr gute Frage, die eine Leserin, aufgrund meines Textes über Selbstisolation, gestellt hat. Ich habe nachgedacht, ich denke schon lange darüber nach, denn ich erlebe immer mehr einsame Menschen, die zu mir kommen. 

Fakt ist: Unsere Gesellschaft versingelt immer mehr.
Fakt ist: Wir bewegen uns in Richtung kollektive Einsamkeit.

Aber wann hat das begonnen?
Es hat begonnen, als wir in das Stadium des modernen Individualismus eingetreten sind.
Manche meinen, das sei so seit der Coronapandemie. So ist es nicht. Die Pandemie und die Maßnahme, Menschen voneinander zu isolieren, hat das soziale Virus „Individualismus“ nur verstärkt und es bewusster gemacht. Nicht ohne Grund, wie ich meine: Damit wir endlich hinsehen, wo wir kollektiv hindriften. Geholfen hat es wenig, auf politischer Ebene ist das Thema Einsamkeit, im Gegensatz zu England, das längst ein Einsamkeitsministerium hat, bei uns nicht angekommen.

Schon lange vor der Pandemie sprechen Psychologen von einem Trend zur Vereinzelung.

Hans-Joachim Maaz geht in seinem Psychogramm: „Die narzisstische Gesellschaft“ auf Ursachenforschung, was Individualismus und Narzissmus kollektiv mit uns machen.
In seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“, geht aktuell der Publizist Martin Hecht diesem Thema auf den Grund. Er spricht vom radikalen Ich, das unsere Demokratie bedroht und warnt davor, dass der moderne Individualismus zunehmend zu einer Gefahr für den Zusammenhalt im Kollektiv wird.
Diana Kinnert setzt sich in ihrem Buch „Die neue Einsamkeit“ mit alter und neuer Einsamkeit auseinander und stellt fest: Eine neue Einsamkeit greift, unabhängig von Corona, immer weiter um sich. Die Gründe hierfür sieht sie darin, dass unsere Gesellschaft auf Konsum statt Intimität, Flexibilität statt Verbindlichkeit, und immer mehr Gewinn statt Stabilität ausgerichtet ist.

Höher, schneller, weiter – das ist das Lebensmotto vieler. Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und persönliche Freiheit werden als hohes Gut angesehen.Jeder ist sich selbst der Nächste, was das eigene Ich und dessen Verwirklichung stört, muss weg.
Haben statt sein.
Damit hat sich schon Erich Fromm in seinem Buch "Haben oder Sein" im Jahre 1976 auseinandergesetzt und eindringlich davor gewarnt, dass eine Gesellschaft, die vom Streben nach Besitz und markt- und konsumorientierten „Haben“ dominiert wird, scheitern wird.
Das zeigt sich jetzt immer deutlicher.
Der Individualismus, der kollektive Narzissmus, der Selbstoptimierungswahn und die Egozentriertheit vieler Menschen fordert ihren Preis: Der Mensch entfremdet sich von sich selbst und damit in der Folge von seinem Nächsten. Er dreht sich nur noch um sich selbst, er bespiegelt sich selbst und am Ende muss er feststellen: Individualismus macht allein.

Aber was ist Individualismus überhaupt?
Individualismus definiert eine Anschauung und Geisteshaltung, die dem Individuum und seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt. Eine Haltung also, die auf die Entfaltung und das Wohlergehen der eigenen Persönlichkeit ausgerichtet ist und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wenig Raum lässt. Die Folge: Eine individualistisch orientierte Gesellschaft, die sich durch lose, unverbindlichere soziale Bindungen auszeichnet.

Das eigene Ich wird zum Maß aller Dinge. Und so reden sie auch, die Meisten: von sich. Und so denken sie auch die Meisten: an sich. Ich, ich, ich
Und dann kommt lange nichts oder nur das, was dem Ich nützlich ist und was es brauchen kann.
Eine Geisteshaltung, die natürlicherweise ihren Preis hat: nämlich die Zersplitterung eines Gemeinsamkeitsgedankens und der Verlust des Bewusstseins des Einzelnen für das Ganze.
Verbundenheit fehlt, ein menschliches Miteinander fehlt, lebendiger Kontakt, der mit allen Sinnen erlebt wird, fehlt. All das wird ersetzt durch die virtuelle Welt, die uns vorgaukelt – wir sind verbunden.
Alles Schimäre weiter nichts!
Denn hunderte Freunde auf Facebook oder tausende Follower auf Instagram simulieren lediglich eine illusionistische Verbundenheit, die in der realen Welt nicht existiert.
Flashfull Fantasy, die an der Realität zerplatzt, dann nämlich, wenn uns bewusst wird, wie allein wir da vor unseren Handys und PC´s sind, während wir das Leben unserer sogenannten Freunde betrachten, liken und kommentieren, Menschen, die wir meist nicht einmal kennen.

Der Mensch selbst ist nicht nur Konsument, er ist selbst zum Konsumgut geworden.  

Er konsumiert und wird konsumiert. Tinder z.B., das Online Warenhaus in dem ich mir, nach dem Motto: Wisch und weg und Match! einen One Night Stand bestelle, denn eine echte Beziehung wollen die meisten gar nicht. Das Leben mit dem eigenen Ich ist anstrengend genug.
Es geht noch krasser.
Manch einer verliebt sich in eine(n) KI-Chatbot, der/die ihm vorgaukelt, er sei in einer echten Beziehung. Eine Beziehung, die nur seine eigenen Bedürfnisse erfüllt, nichts von ihm fordert und ihm die tägliche Dosis Honig ums Maul schmiert um sein Ego zu streicheln, auf dass es weiter wachsen möge.
Ich, ich, ich …


Das moderne Ich holt sich seine Bedeutung vornehmlich virtuell. 

Geredet wird auch nicht mehr viel, wenn nicht unbedingt nötig, es wird What´s appt, zugetextet, wie ich es nenne. Texten ist weniger anstrengend und zeitaufwendig als ein echter Dialog mit einem leibhaftigen Gegenüber. Vornehmlich wird mitgeteilt, es werden Gifs und flache Sprüche versendet – ein Mist, den kein Mensch braucht. Alles um das eigene Selbstgefühl zu stärken.
Man textet einander, man kann sich einreden, dass man im Innern des anderen präsent ist, eine Bedeutung in seinem Leben zu haben, auch wenn der andere einer ist, den man noch nie im richtigen Leben gesehen hat. Unbemerkt bleiben, nicht vorhanden sein für andere, ist das Schlimmste. Aber in Wahrheit ist es bei immer mehr Menschen genauso. Wer seine Bedeutung und damit sein Selbstwertgefühl auf diese Weise zu stärken versucht, baut auf Sand, er stützt sich auf etwas, das so schnell verrinnt, wie sein Getexte. Zurück bleiben Individualisten, die sich mit der Einsamkeit abfinden müssen, wenn sich nicht radikal etwas ändert.

Die Heilung des Individuums hat nicht viel Sinn ohne das Streben nach einer besseren Gesellschaft. 

Wieviel Sinn hat es, Individuen von seelischen Krankheiten zu heilen, aber nicht vor den Gefahren zu warnen, die durch eine individualistisch-narzisstische Gesellschaft drohen, die eine gesunde Gesellschaft zunichte machen? Unsere Aufgabe ist es einander zu ermutigen, hinzuschauen, uns wieder einander zuzuwenden und uns unserer Verantwortung für das Ganze bewusst zu werden, uns ihr zu stellen und sie zu übernehmen. Tun wir das? Nein. Die meisten tun es nicht. Viele sind gleichgültig oder tun so als sei alles in Ordnung.

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