Montag, 20. Juni 2022

Aus der Praxis: Borderline

 

                                                                 Foto: Reinhard Berg 
                                                          https://www.reinhard-berg.de/

 
Sie ist voller Lebensangst und zugleich will sie nur leben. Sie sehnt sich nach Nähe und Zärtlichkeit und zugleich ist sie nach innen und außen abgeschottet. Sie sehnt sich nach Zuneigung und Liebe und zugleich hat sie panische Angst fallen gelassen zu werden.
Ihr Bedürfnis nach Halt kippt um in die Angst vor Einengung. Ihr Bedürfnis nach Anlehnung kippt um in die Angst vor Ablehnung und Zurückweisung. Ihre Angst vor Zurückweisung und Verlassenwerden mündet in das Zerstören jeder Beziehung. 
 
Sie ist eine kluge, aufrichtige, starke, empathische, hochsensible, auf der sozialen Ebene hochintensive Frau und gleichzeitig wohnt ein kleines trauriges Mädchen in ihr, das resigniert hat und sich vor der Welt, dem Leben und den Menschen fürchtet. 
 
Sie sehnt sich nach Menschen und Beziehung und wagt es kaum, sich einzulassen. Sie sehnt sich nach Nähe und fürchtet sich vor Nähe, weil Nähe erfahrungsgemäß immer Verletzung, Missbrauch oder Misshandlung bedeutet. Sie führt Freundschaften nur zaghaft, weil sie es nicht ertragen kann zu tief in das Fremde hineingezogen zu werden. Für sie bedeutet es Auflösung. 
 
Sie ist nicht in der Lage das Bild eines anderen in sich abzuspeichern. Das liegt daran, dass sie in instabilen Beziehungen groß geworden ist. Wenn eine für sie wichtige Bezugsperson nur kurz weg ist, ist das bedrohlich für sie, weil es emotional gleich kommt mit: Die kommt nie wieder. In ihrer Not versucht sie andere an sich zu binden durch Androhung von Suizid und selbstverletzendes Verhalten. Sie kann Liebesbeziehungen führen, aber sie gleichen einer Achterbahnfahrt. 
 
Sie ist zutiefst misstrauisch.
Sie braucht Vertrauen, Beständigkeit, Loyalität und Ehrlichkeit. Jeder Lüge, jeder Betrug, jede Kränkung stürzt sie ins Bodenlose. Das triggert ihr altes Trauma einer familiären Umgebung, die nicht haltend und nicht schützend war.
Sie kann reale Gefahren und das Gefühl von Angst nicht unterscheiden. Sie hält es nicht gut mit sich allein aus, weil sie sich selbst kaum aushalten kann. Sie steht unter permanenter innerer Spannung, die sich auflöst, wenn sie sich selbst verletzt. Das Selbstverletzen hat Auswirkungen auf ihr Emotionssystem, das so noch instabiler wird. Das wiederum hat Auswirkungen auf ihr fragiles Selbstkonzept. 
 
Ihr Mangel an innerer Geborgenheit treibt sie von einer Stimmung in die nächste. Sie ist ständig am Kippen und fällt von einem Extrem ins andere. Es fällt ihr unsagbar schwer aus destruktiven Stimmungen wieder herauszufinden.
 
Ihre ohnmächtige Wut ist grenzenlos und explodiert ohne Vorwarnung. Ihre Neigung zur Depression und die Gefahr von Suchtmitteln abhängig zu werden, ist groß.
Sie kann eine emotionale Mitte nicht fühlen. Sie ist entweder ganz oben oder ganz unten. An oder aus.
Das geschieht unbewusst. Sie erschreckt nach jedem emotionalen Ausbruch über sich selbst und schämt sich. 
 
Die Amygdala, die für grobe Emotionen zuständig ist, ist bei ihr kleiner in der Masse, wenn sie aber aktiviert wird reagiert sie schneller und stärker als bei anderen Menschen.
Sie weiß nicht, wie sie mit dem Leben umgehen soll und oft denkt sie, sie wird daran zerbrechen. Sie braucht jemanden, der ihr hilft, kann Hilfe aber nur schwer zulassen. 
 
Sie nimmt die Welt zutieftst intensiv, widersprüchlich und fragmentarisch wahr. Das schafft Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Unfähig die Wirklichkeit, in all ihren Facetten einzuschätzen, ist sie gefangen in ihrem zerstückelten Bild von Welt. Sie ist voller Angst und Misstrauen, weil es ihr nicht gelingt die widersprüchliche Welt zu erfassen, sie zu verstehen und die Dinge angemessen einzuordnen. Für sie ist das Leben eine Ansammlung von Splittern, die keinen Zusammenhang ergeben.
Sie ist ständig in Hab-Acht-Stellung vor allen möglichen Missklängen, Bedrohungen und Gefahren. Sie hat eine erhöhte Sensibilität und ein ausgeprägtes Frühwarnsystem seit sie klein ist. 
Sie hat es gebraucht um zu überleben.
Dass sie es heute nicht mehr braucht, weiß sie nicht.
 
Aus Selbstschutz trägt sie eine Rüstung im Wissen, dass diese voller Risse ist und sie nicht schützen kann. Sie führt ständig einen Kampf zwischen Liebe und Hass - in sich selbst und mit der Welt. Sie kann Gut und Böse nicht zusammenbringen. Sie lebt in der Spaltung. Sie sieht und fühlt nur Schwarz oder Weiß. Ein Grau gibt es für sie nicht.
Das kostet unheimlich viel Kraft und verbraucht unsagbar viel Energie. 
 
In ihrer Zerrissenheit weiß sie nicht, was sie braucht und was sie nicht braucht. Sie weiß nicht wo die Grenze zwischen ihr selbst und den Anderen beginnt und wo sie aufhört.
Sie leidet darunter wie zerstörerisch ihr Leben war und ist.
Am Meisten leidet sie unter dem zersetzenden Gefühl in sich selbst keinen Halt zu finden. Sie ist eine Verlorene in sich selbst. Unsicherheit, Wertlosigkeit, Misstrauen, Angst und der Schmerz grenzenloser Einsamkeit sind ihre Begleiter.
 
Es schmerzt mich die tiefe innere Verlassenheit und die ohnmächtige Wut der Verzweiflung dieses zutiefst beschädigten Selbst zu spüren. Es rührt mich in die Augen dieses einsamen kleinen starken Mädchens zu blicken, das, seit es geboren ist, unermüdlich seinen Platz in der Welt sucht, den Platz dem man ihm nicht geben wollte. Es rührt mich zu sehen, wie dieses verletzte Menschenkind trotz allem, eine scheinbar unzerstörbare Widerstandfähigkeit in sich trägt.
Sie ist eine Grenzgängerin.
Man nennt das Borderline.

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